Manchmal braucht es nur eine Handvoll entschlossener Männer und eine Wiese mit Seeblick, um Geschichte zu schreiben. Zumindest erzählt man sich das so in der Schweiz, wenn es um die Rütliwiese geht. Diese unscheinbare Grasfläche am Ufer des Vierwaldstättersees gilt als mythischer Geburtsort der Eidgenossenschaft - ein Ort, der mehr über die Schweizer Seele verrät als manch anderes Wahrzeichen.
Ob die Geschichte wirklich so stattgefunden hat, darüber streiten sich Historiker seit Jahrhunderten. Fakt ist: Der Rütlischwur und die Gestalt des Wilhelm Tell sind derart fest im kollektiven Gedächtnis verankert, dass sie längst zur DNA des Landes gehören. Wer die Schweiz verstehen will, kommt an dieser Legende nicht vorbei.
Die Legende vom Rütlischwur
Stell dir vor, es ist das Jahr 1291, und drei Männer treffen sich heimlich auf einer abgelegenen Wiese. Walter Fürst aus Uri, Werner Stauffacher aus Schwyz und Arnold von Melchtal aus Unterwalden haben genug von der habsburgischen Willkürherrschaft. In sternenklarer Nacht schwören sie sich ewige Treue und gründen die Eidgenossenschaft - den Bund, der später zur Schweiz werden sollte.
So weit die Überlieferung, wie sie Friedrich Schiller in seinem Drama "Wilhelm Tell" dramatisch aufbereitet hat. Historisch belegt ist davon wenig bis nichts. Das Bundesbriefmuseum in Schwyz bewahrt zwar den berühmten Bundesbrief von 1291 auf, doch der erwähnt weder die Rütliwiese noch einen nächtlichen Schwur. Vielmehr handelt es sich um ein nüchternes Rechtsdokument, das ein Bündnis zwischen den drei Waldstätten besiegelt.
Trotzdem - oder gerade deshalb - übt die Legende eine ungebrochene Faszination aus. Sie verdichtet die komplexe Entstehungsgeschichte der Schweiz zu einem einprägsamen Bild: Männer aus dem Volk, die sich gegen Unterdrückung auflehnen und dabei auf demokratische Prinzipien setzen. Das passt perfekt zum Schweizer Selbstverständnis.
Wilhelm Tell - Held oder Hirngespinst?
Eng mit dem Rütlimythos verknüpft ist die Gestalt des Wilhelm Tell. Der Schütze aus Bürglen soll seinen Sohn mit einem gezielten Pfeilschuss vom Kopf befreit und später den tyrannischen Landvogt Gessler getötet haben. Eine schöne Geschichte, die allerdings in ähnlicher Form in vielen europäischen Sagen auftaucht.
Trotz aller Zweifel an der historischen Existenz Tells bleibt seine Symbolkraft ungebrochen. In Altdorf steht ihm zu Ehren ein monumentales Denkmal, und das dortige Tell-Museum widmet sich ausführlich der Figur. Besonders spannend ist dabei die Auseinandersetzung mit der Frage, wie aus einer möglicherweise erfundenen Gestalt ein nationales Symbol werden konnte.
Schillers Drama "Wilhelm Tell" von 1804 spielte dabei eine entscheidende Rolle. Der deutsche Dichter formte aus den verschiedenen Überlieferungen ein packsendes Bühnenstück, das die Schweizer Unabhängigkeitsbewegung in den Kontext der europäischen Befreiungskämpfe seiner Zeit stellte. So wurde Tell vom regionalen Sagenhelden zum Symbol für Freiheit und Widerstand - nicht nur in der Schweiz.
Die Rütliwiese heute - Wallfahrtsort der Nation
Wer die Rütliwiese besucht, muss sich auf eine gewisse Ernüchterung gefasst machen. Die "Wiege der Eidgenossenschaft" ist eine kleine, unspektakuläre Grasfläche am Seeufer - pittoresk gelegen, aber alles andere als monumental. Nur eine schlichte Steinplatte und ein paar Schweizer Fahnen erinnern an die angeblich epochalen Ereignisse von 1291.
Dafür ist die Atmosphäre umso eindringlicher. Besonders am frühen Morgen, wenn der Nebel noch über dem See hängt und die umliegenden Berge wie Scherenschnitte aus der Dämmerung ragen, lässt sich die Magie des Ortes spüren. Hier wird klar, warum gerade diese Landschaft zur Projektionsfläche für Schweizer Sehnsüchte wurde.
Jedes Jahr am 1. August, dem Schweizer Nationalfeiertag, pilgern Tausende zur Rütliwiese. Dann verwandelt sich die sonst so stille Wiese in eine Art open-air Kathedrale des Patriotismus. Bundesräte halten Ansprachen, Alphörner schmettern über den See, und die Anwesenden singen gemeinsam die Nationalhymne. Kitschig? Möglicherweise. Aber auch zutiefst bewegend für alle, die sich der Wirkung dieses besonderen Ortes hingeben.
Rundweg zu den Tell-Stätten
Die Region um den Vierwaldstättersee ist gespickt mit Orten, die mit der Tell-Legende in Verbindung stehen. Ein Rundtrip zu diesen Schauplätzen führt durch eine der schönsten Landschaften der Schweiz und bietet nebenbei einen Crashkurs in Schweizer Mythologie.
Der Ausgangspunkt ist meist Luzern mit seinem berühmten Löwendenkmal und der gut erhaltenen Altstadt. Von hier aus geht es mit dem Schiff über den See nach Altdorf, wo das imposante Tell-Denkmal von 1895 an den legendären Apfelschuss erinnert. Das angrenzende Tell-Museum beleuchtet sowohl die Sage als auch ihre Rezeptionsgeschichte.
Bürglen, Tells angeblicher Geburtsort, liegt nur wenige Kilometer entfernt. Hier steht das älteste Tell-Denkmal der Schweiz, und die dortige Tell-Kapelle erzählt in naiven Wandmalereien die bekannte Geschichte. Von Bürglen aus führt eine schöne Wanderung zur Tellsplatte am Vierwaldstättersee, wo der Held nach seiner Befreiung aus Gesslers Boot an Land gesprungen sein soll.
Der krönende Abschluss ist natürlich die Rütliwiese selbst. Sie lässt sich entweder mit dem Schiff von Brunnen aus erreichen oder über einen reizvollen Wanderweg von Seelisberg. Wer gut zu Fuß ist, kann auch den ganzen Weg von der Tellsplatte zur Rütliwiese wandern - eine Tour, die etwa drei Stunden dauert und spektakuläre Ausblicke auf den See bietet.
Schwyz und das Bundesbriefmuseum
Keine Tell-Pilgerfahrt ist komplett ohne einen Besuch in Schwyz, dem Namensgeber der Schweiz. Das dortige Bundesbriefmuseum beherbergt den berühmten Bundesbrief von 1291 - das einzige wirklich authentische Dokument aus der Zeit der Eidgenossen-Gründung.
Das Museum macht keinen Hehl daraus, dass die romantischen Vorstellungen vom Rütlischwur historisch nicht haltbar sind. Stattdessen erklärt es anschaulich, wie aus pragmatischen Bündnissen zwischen Talgemeinden über die Jahrhunderte die moderne Schweiz entstanden ist. Besonders interessant ist die Darstellung, wie die Tell-Sage im 19. Jahrhundert zur nationalen Identitätsstiftung instrumentalisiert wurde.
Schwyz selbst ist ein schmuckes Städtchen mit einem prächtigen Hauptplatz und traditionellen Häusern. Wer Zeit hat, sollte auch einen Abstecher ins nahegelegene Einsiedeln machen, wo das berühmte Benediktinerkloster steht. Die barocke Klosterkirche mit ihrer Schwarzen Madonna ist eines der bedeutendsten Pilgerziele der Schweiz.
Praktische Tipps für Tell-Touristen
Die beste Zeit für eine Tell-Tour ist der Spätsommer oder frühe Herbst, wenn das Wetter meist stabil ist und die Touristenströme etwas nachlassen. Wer den 1. August miterlebt will, sollte rechtzeitig buchen - Hotels und Restaurants sind dann meist ausgebucht.
Für die Anreise zur Rütliwiese empfiehlt sich das Schiff ab Brunnen oder - noch spektakulärer - ab Luzern. Die Schifffahrtsgesellschaft des Vierwaldstättersees betreibt auch historische Raddampfer, die der ganzen Fahrt einen nostalgischen Touch verleihen. Alternative: Mit dem Auto nach Seelisberg und von dort zu Fuß zur Rütliwiese (etwa 45 Minuten Fußweg).
Ein Geheimtipp für Wanderer ist der Weg der Schweiz, ein Rundwanderweg um den Urnersee, der an der Rütliwiese vorbeiführt. Jeder Kilometer des 35 Kilometer langen Weges steht für ein Jahr Schweizer Geschichte seit 1291. Das klingt pathetisch, ist aber eine schöne Art, Landschaft und Geschichte zu verbinden.