Italien

Valle Maira: Wildes Tal der Stille – Ein verstecktes Paradies im Piemont

Ein abgelegenes Tal, das die Massentourismus-Welle verschlafen hat. Raue, unberührte Berglandschaften treffen auf verlassene Steindörfer und authentische Kultur.

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Zwischenablage

Zwischen den bekannten Tälern Valle Po und Valle Varaita liegt ein fast vergessenes Stück Alpenlandschaft: das Valle Maira. Rund 40 Kilometer lang zieht sich dieser Gebirgsspalt von der piemontesischen Ebene bei Dronero in westlicher Richtung bis zur französischen Grenze. Die Straße hinauf windet sich durch Kastanienhaine und Mischwälder, vorbei an Felswänden und Geröllhalden. Mit jedem Kilometer wird die Landschaft karger, die Ortschaften kleiner und die Stille tiefer.

Anders als in vielen alpinen Gebieten gähnen hier keine überdimensionierten Liftanlagen. Stattdessen prägen alte Steinhäuser, winzige Dörfer und unberührte Berghänge die Szenerie. Der Fluss Maira, nach dem das Tal benannt ist, schlängelt sich mal wild tosend, mal sanft plätschernd durch die Landschaft. Seine türkisblauen Becken laden im Sommer zum erfrischenden Bad ein – wenn man die Kälte des Gletscherwassers nicht scheut.

Die Besonderheit des Valle Maira liegt in seiner relativen Unberührtheit. Während andere Alpentäler seit Jahrzehnten dem Massentourismus frönen, blieb dieser Landstrich lange Zeit ein weißer Fleck auf der touristischen Landkarte. Erst seit den 1990er Jahren entdecken Wanderer, Mountainbiker und Naturfans dieses Juwel allmählich für sich. Doch selbst in der Hochsaison bleibt die Besucherzahl überschaubar – ein Umstand, der dem Tal seinen einzigartigen Charakter bewahrt hat.

Die Geschichte einer Entvölkerung

Bis in die 1950er Jahre waren die Hänge des Valle Maira dicht besiedelt. Fast 20.000 Menschen lebten damals in den verstreuten Ortschaften und Weilern. Doch dann kam die große Abwanderungswelle. Die harten Lebensbedingungen, fehlende Arbeitsplätze und die zunehmende Industrialisierung im Flachland lockten die Einheimischen fort. Zurück blieben verlassene Siedlungen, verfallende Häuser und eine Handvoll Alteingessener, die ihrer Heimat treu blieben.

Heutzutage zählt das gesamte Tal kaum mehr als 2.000 ständige Bewohner. Ganze Dörfer wie Narbona oder Valliera wurden zu Geisterdörfern. In anderen Ortschaften hat sich die Einwohnerzahl auf einige Dutzend reduziert. Nur langsam kehrt neues Leben ein – durch Aussteiger, die das einfache Leben suchen, durch Künstler, die die Stille schätzen, oder durch Einheimische, die in ihre Heimat zurückkehren, um kleine Pensionen oder Restaurants zu betreiben.

Die dramatische Entvölkerung hat Spuren hinterlassen. Terrassen, auf denen einst Getreide angebaut wurde, sind von Büschen überwuchert. Alte Mühlen verfallen. Vielerorts bezeugen nur noch Grundmauern die einstige Existenz ganzer Weiler. Andererseits hat gerade diese Entwicklung dazu beigetragen, dass sich Natur und Landschaft weitgehend ungestört entfalten konnten. Die Wiederaneignung durch Wald und Wildnis prägt heute das Bild eines Tals, das manchmal mehr an Kanada als an die typischen Alpen erinnert.

Die Perlen des Tals

Das Valle Maira ist kein Ort für Schnellbesucher. Seine Schönheit erschließt sich erst dem, der bereit ist, Zeit zu investieren und genauer hinzuschauen. Den Anfang macht Dronero, das Eingangstor zum Tal. Der hübsche Hauptort mit seinen mittelalterlichen Gassen, dem markanten Turm und der imposanten Teufelsbrücke lohnt mehr als nur einen Durchfahrtsstopp. Hier schlägt noch das wirtschaftliche Herz der Region, hier findet man die meisten Einkaufsmöglichkeiten und Restaurants.

Weiter talaufwärts wartet San Damiano Macra mit seinem hervorragend erhaltenen historischen Ortskern. Die engen Gassen, die sich zwischen den Häusern hindurchschlängeln, scheinen direkt aus dem Mittelalter in die Gegenwart gesprungen zu sein. Die kleine Kirche San Damiano mit ihren Fresken zeugt von der einstigen Bedeutung des Ortes.

Das eigentliche Herzstück des Tals ist jedoch Stroppo. Von hier aus hat man einen atemberaubenden Blick auf die umliegenden Berge. Die Gemeinde besteht aus mehreren kleinen Fraktionen, die über das Gebiet verstreut sind. In Paschero, einem dieser Ortsteile, befindet sich die romanische Kirche San Peyre mit ihrem charakteristischen Glockenturm – ein Wahrzeichen des Tals.

Ganz am oberen Ende, kurz vor der französischen Grenze, thront Chiappera – ein kleiner Weiler, eingeklemmt zwischen steilen Felswänden. Das markante Rocca Provenzale, eine 2.402 Meter hohe Felsnadel, überragt den Ort und bildet eine beeindruckende Kulisse. An klaren Tagen leuchtet der helle Kalkstein der Felswand im Sonnenlicht wie ein Leuchtturm und ist schon von weitem zu sehen.

Wandern abseits des Trubels

Das Valle Maira ist ein Wanderparadies der besonderen Art. Hier gibt es keine Seilbahnen, die Massen von Touristen auf die Berge befördern. Wer die Höhen erklimmen will, muss sie sich zu Fuß erarbeiten. Die Mühe wird jedoch mit Einsamkeit, Stille und grandiosen Ausblicken belohnt.

Der Maira-Stura-Kammweg (Percorsi Occitani) ist die bekannteste Route im Tal. Auf gut 100 Kilometern führt er durch die Hochlagen des Valle Maira und eröffnet immer wieder neue Perspektiven auf die umgebende Bergwelt. Die Tour lässt sich bequem in sechs bis sieben Tagesetappen unterteilen. Unterwegs gibt es einfache Unterkünfte in Form von Berghütten oder kleinen Pensionen.

Eine besonders reizvolle Wanderung führt von Chiappera aus zum Lago Nero, einem kleinen Bergsee auf 2.246 Metern Höhe. Der Aufstieg ist steil, aber nicht übermäßig schwierig. Während der Wanderung wechselt die Landschaft ständig: Zunächst steigt man durch lichten Lärchenwald, später durch Latschenkiefern und Alpenrosenfelder und schließlich über Geröllhalden und Felsplatten. Am Ziel wartet ein tiefblauer See, eingebettet in eine karge Hochgebirgslandschaft. Das Wasser reflektiert die umliegenden Gipfel – ein unvergesslicher Anblick.

Für Gipfelstürmer bietet sich der Monte Chersogno (3.026 m) an. Von Prazzo Superiore aus führt ein gut markierter Pfad hinauf. Der Anstieg ist lang und anstrengend, belohnt die Mühen jedoch mit einem 360-Grad-Panorama, das von der Po-Ebene bis zu den französischen Alpen reicht. Bei guter Sicht kann man sogar den Monte Viso erkennen, mit 3.841 Metern der höchste Berg der Region.

Im Winter verwandelt sich das Valle Maira in ein Eldorado für Schneeschuhwanderer und Skitourengeher. Die sanften Hänge und die geringe Lawinengefahr machen das Gebiet ideal für diese Sportarten. Da es keine großen Skigebiete gibt, bleibt der Schnee oft tagelang unberührt – ein Traum für jeden, der Spuren in den Neuschnee ziehen möchte.

Kulinarische Schätze aus dem Gebirge

Die Küche des Valle Maira ist bodenständig, deftig und eng mit der bäuerlichen Tradition verbunden. Hier wird gekocht, was die karge Bergregion hergibt: Kartoffeln, Kastanien, Wildkräuter, Pilze und Käse. Fleisch gab es früher selten – meistens nur zu besonderen Anlässen. Diese Tradition der kreativen Verarbeitung einfacher Zutaten hat bis heute überlebt.

Eine lokale Spezialität sind die Ravioles. Anders als die bekannten italienischen Ravioli handelt es sich hierbei um kleine, nudelartige Teigflocken, die mit Käse und Kräutern zubereitet werden. Sie schmecken besonders gut mit einer Sauce aus geschmolzener Butter und Salbei. In früheren Zeiten waren sie oft die einzige warme Mahlzeit am Tag für die hart arbeitenden Bergbauern.

Der Käse des Valle Maira genießt einen exzellenten Ruf. Besonders bekannt ist der Nostrale d'Alpe, ein halbharter Käse aus Kuhmilch, der während der Sommerzeit auf den Almen hergestellt wird. Sein Geschmack variiert je nach Standort und Jahreszeit – abhängig davon, welche Kräuter die Kühe gefressen haben. In manchen kleinen Käsereien kann man der Herstellung zusehen und direkt vor Ort probieren.

Die Kastanie spielte einst eine zentrale Rolle in der Ernährung der Talbewohner. Sie war das „Brot der Armen" und wurde auf vielfältige Weise zubereitet. Heute findet man sie in Form von Kastanienmehl für Kuchen und Brot, als Beilage zu Wildgerichten oder als süße Nachspeise. Die Toma del Castelmagno, ein würziger Käse aus dem nahe gelegenen Ort gleichen Namens, wird oft mit Kastanienhonig serviert – eine gelungene Kombination aus würzig und süß.

Zu einem guten Essen gehört natürlich auch ein guter Tropfen. Das Valle Maira selbst ist kein Weinanbaugebiet – dafür ist es zu hoch gelegen. Aber im Umland, vor allem in der Gegend um Alba und Barolo, wachsen einige der besten Weine Italiens. Viele lokale Restaurants bieten eine sorgfältig zusammengestellte Auswahl dieser edlen Tropfen an.

Die Kultur der Okzitaner

Das Valle Maira gehört kulturell zum okzitanischen Sprachraum. Die Okzitaner sind eine Minderheit, deren Siedlungsgebiet sich über Teile Südfrankreichs, das nordwestliche Italien und ein kleines Stück Spanien erstreckt. Ihre Sprache, das Okzitanische oder Provenzalische, ist eng mit dem Katalanischen verwandt und wird im Valle Maira noch von vielen älteren Bewohnern gesprochen.

Die okzitanische Kultur ist geprägt von einer reichen Tradition an Volksliedern, Tänzen und Handwerkskunst. In den letzten Jahrzehnten gab es verstärkte Bemühungen, dieses kulturelle Erbe zu bewahren. In Dronero befindet sich das Espaci Occitan, ein Museum und Kulturzentrum, das sich der okzitanischen Kultur widmet. Hier kann man traditionelle Musikinstrumente, Trachten und Alltagsgegenstände besichtigen und mehr über die Geschichte und Sprache der Region erfahren.

Musik spielt eine wichtige Rolle im kulturellen Leben. Die typischen Instrumente sind Drehleier, Akkordeon und verschiedene Flöten. In den Sommermonaten finden in den Dörfern regelmäßig kleine Konzerte und Tanzveranstaltungen statt. Besonders beliebt ist der Courento, ein schneller Tanz im Dreivierteltakt. Wer Glück hat, kann bei einem Dorffest nicht nur zuschauen, sondern wird auch zum Mittanzen eingeladen.

Die religiöse Kunst ist ein weiterer wichtiger Aspekt der lokalen Kultur. Zahlreiche kleine Kirchen und Kapellen schmücken das Tal, oft mit überraschend wertvollen Kunstschätzen im Inneren. Ein Beispiel ist die Kapelle San Sebastiano in Celle di Macra mit ihren gut erhaltenen gotischen Fresken aus dem 15. Jahrhundert. Sie erzählen biblische Geschichten und waren gedacht als "Bibel für die Armen" – für Menschen, die nicht lesen konnten.

Praktische Informationen für Besucher

Die beste Reisezeit für das Valle Maira ist von Mai bis Oktober. Im Frühjahr schmücken Blumenwiesen die Hänge, im Sommer locken angenehme Temperaturen zu ausgedehnten Wanderungen, und im Herbst verwandeln sich die Wälder in ein farbenfrohes Spektakel. Der Winter bringt meist reichlich Schnee und eignet sich hervorragend für Schneeschuhwanderungen oder Skitouren.

Die Anreise erfolgt am besten mit dem eigenen Fahrzeug. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist das Tal nur eingeschränkt erreichbar. Busse verkehren zwar regelmäßig zwischen Cuneo und Dronero, aber weiter talaufwärts wird der Fahrplan dünn. In den Sommermonaten gibt es einen Wanderbus, der die wichtigsten Ausgangspunkte für Wanderungen anfährt.

Unterkünfte gibt es in verschiedenen Preisklassen. Von einfachen Berghütten und Pensionen bis hin zu komfortablen Agriturismo-Betrieben ist alles vertreten. Eine Besonderheit sind die sogenannten "Posto Tappa" – einfache, aber gemütliche Unterkünfte entlang der Weitwanderwege. Sie bieten meist Halbpension an, damit die Wanderer am nächsten Morgen gestärkt weitergehen können.

Beim Einkaufen sollte man bedenken, dass es in den kleineren Dörfern oft keine Geschäfte gibt. In Dronero und San Damiano Macra findet man kleine Supermärkte und Bäckereien, weiter oben im Tal wird es schwieriger. Es empfiehlt sich, bei längeren Aufenthalten im oberen Talabschnitt entsprechend vorzusorgen.

Die Mobilfunkabdeckung ist lückenhaft. In den Hauptorten besteht meist guter Empfang, sobald man sich jedoch in die Seitentäler oder auf die Berge begibt, kann das Signal schnell abreißen. Für manche mag dies ein Nachteil sein – für andere ist es genau das, was sie suchen: die Möglichkeit, wirklich abzuschalten und dem digitalen Alltag zu entfliehen.

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