Wer durch die Dolomiten wandert, bewegt sich durch eine Landschaft voller Geschichten. Jeder schroffe Gipfel, jede bizarre Felsformation hat hier seine eigene Legende. Das liegt an den Ladinern, die seit Jahrhunderten in diesen Bergen leben und deren Erzähltradition reicher ist als manch ein Goldschatz. Ihre Sagen erklären nicht nur, warum die Berge im Abendlicht rosa glühen – sie hauchen den steinernen Riesen Leben ein.
Besonders faszinierend dabei: Diese Geschichten sind nicht einfach erfunden, sondern spiegeln die enge Verbindung der Menschen zu ihrer rauen Heimat wider. Wenn du heute durch das Grödnertal oder das Gadertal fährst, hörst du noch immer ladinisch sprechen – eine rätoromanische Sprache, die älter ist als das Deutsche in diesen Gebieten. Und mit der Sprache leben auch die alten Geschichten weiter.
Der Zwergenkönig Laurin und sein Rosengarten
Die berühmteste aller Dolomiten-Sagen dreht sich um König Laurin, den Herrscher der Zwerge. Tief unter dem heutigen Rosengarten-Massiv soll sein prächtiges Reich gelegen haben. Laurin besaß einen wunderschönen Rosengarten, der sich über die gesamte Hochfläche zwischen Schlern und Rosengarten erstreckte. Die Rosen blühten dort das ganze Jahr über – ein paradiesisches Fleckchen Erde mitten in der rauen Bergwelt.
Nun war Laurin nicht nur König, sondern auch stolzer Besitzer eines Gürtels, der ihm die Kraft von zwölf Männern verlieh, und einer Tarnkappe, die ihn unsichtbar machte. Doch all seine Macht half ihm nichts, als die Liebe ins Spiel kam. Der Zwergenkönig verliebte sich unsterblich in Similde, die Tochter des Königs von Tirol. Das Problem: Sie war bereits einem anderen versprochen.
Was folgte, war eine Geschichte von Entführung, Verrat und Rache, die selbst heutige Actionfilme alt aussehen lässt. Laurin entführte die schöne Similde in sein unterirdisches Reich, wurde aber von deren Verlobtem und dessen Gefolge verfolgt. Nach einem erbitterten Kampf wurde der Zwergenkönig überwältigt und gefangen genommen. Seine Wut über diese Schmach war so gewaltig, dass er einen Fluch über seinen geliebten Rosengarten sprach: Weder bei Tag noch bei Nacht sollte ihn je wieder ein Menschenauge erblicken können.
Nur auf die Dämmerung vergaß der zornige König – und deshalb glühen die Dolomiten bis heute jeden Abend und Morgen in den schönsten Rottönen. Die Ladiner nennen dieses Phänomen "Enrosadira", was so viel wie "Rosenglühen" bedeutet. Wissenschaftlich gesehen handelt es sich um die Reflexion des Sonnenlichts am Dolomitgestein, aber die poetische Erklärung ist definitiv schöner.
Die Entstehung der Dolomiten nach ladinischer Überlieferung
Fragt man einen Geologen nach der Entstehung der Dolomiten, bekommt man eine komplizierte Geschichte über Meeresablagerungen, Korallenriffe und tektonische Verschiebungen zu hören. Die ladinischen Sagen erzählen es deutlich dramatischer: Hier waren einst Riesen am Werk, gewaltige Wesen, die mit bloßen Händen Berge formten und Täler gruben.
Eine der schönsten Geschichten handelt von der Entstehung des Langkofels. Demnach lebte hier einst ein sanftmütiger Riese namens Latemar, der sich in die wunderschöne Tochter eines Mondkönigs verliebte. Jede Nacht stieg er auf den höchsten Berg der Gegend, um seiner Angebeteten näher zu sein. Die Mondprinzessin erwiderte seine Gefühle, aber ihre Liebe war zum Scheitern verurteilt – bei Sonnenaufgang musste sie immer wieder in ihr Mondreich zurückkehren.
Aus Kummer über die unmögliche Liebe wurde der Riese zu Stein. Sein riesiger Körper formte die charakteristische Silhouette des Langkofels, die heute noch seine Sehnsucht nach der unerreichbaren Geliebten zu verkörpern scheint. Romantisch? Durchaus. Aber auch typisch für die ladinische Art, den Bergen menschliche Eigenschaften zu geben.
Anders erklärt die Sage die Entstehung der Drei Zinnen. Hier sollen drei Riesen gelebt haben, Brüder, die sich um das schönste Mädchen des Tales stritten. Ihr Kampf war so heftig, dass die Erde bebte und sich die Berge auftürmten. Am Ende erstarrten alle drei zu Stein – zu den drei markanten Gipfeln, die heute das Wahrzeichen der östlichen Dolomiten bilden. Tatsächlich sehen die Drei Zinnen aus bestimmten Blickwinkeln wie drei kämpfende Riesen aus.
Salige Fräulein und andere mystische Gestalten
König Laurin ist zwar der bekannteste Sagenheld der Dolomiten, aber längst nicht der einzige. Die ladinische Mythologie wimmelt nur so von übernatürlichen Wesen. Da sind zum Beispiel die "Saligen", auch "Salige Fräulein" genannt – zauberhafte Frauen, die in den Bergen leben und sowohl helfen als auch schaden können, je nach Laune.
Diese geheimnisvollen Gestalten sollen besonders schön gewesen sein, mit langem, goldenem Haar, das oft bis zu den Füßen reichte. Sie lebten in prächtigen Schlössern tief im Berginneren und kamen nur heraus, um zu tanzen oder den Menschen zu helfen. Bauern, die sich verirrten, führten sie sicher nach Hause. Kranken brachten sie Heilkräuter. Aber wehe dem, der sie beleidigte oder ihre Geheimnisse verriet – dann wurde ihre Rache gnadenlos.
Besonders interessant ist die Geschichte von der Saligen-Königin am Schlern. Sie soll in einer Höhle gewohnt haben, die heute noch existiert und "Saligenloch" genannt wird. Touristen können sie sogar besuchen, auch wenn die königliche Bewohnerin schon lange verschwunden ist. Der Legende nach zog sie sich zurück, als immer mehr Menschen in die Berge kamen und ihre Ruhe störten.
Dann wären da noch die "Fantasten" – wilde Männer des Waldes, die wie eine Kreuzung aus Yeti und Waldschrat klangen. Dicht behaart, übermenschlich stark und meist schlecht gelaunt, trieben sie ihr Unwesen in den dunkelsten Wäldern der Dolomiten. Zum Glück begegnete man ihnen nur selten, und wenn doch, half meist schnelles Laufen oder ein kräftiges Gebet.
Die Dolasilla und der Kampf gegen das Böse
Nicht alle ladinischen Sagen handeln von Liebe und Sehnsucht. Manche erzählen auch von Mut und Heldentum. Die Geschichte der Dolasilla ist so eine – eine Art ladinische Jeanne d'Arc, die ihr Volk vor einer schrecklichen Bedrohung rettete.
Dolasilla lebte zur Zeit der Völkerwanderung, als fremde Krieger die friedlichen Täler der Ladiner überfielen. Die junge Frau, schön wie der Morgen und klug wie die Nacht, erkannte die Gefahr früher als alle anderen. Sie warnte ihr Volk und organisierte den Widerstand gegen die Eindringlinge. Unter ihrer Führung gelang es den Ladinern, ihre Heimat zu verteidigen, auch wenn Dolasilla selbst dabei ihr Leben lassen musste.
Ihr Grab soll sich am Col de Flam befinden, einem Berg zwischen Gröden und dem Gadertal. Noch heute pilgern manche Ladiner dorthin, um der tapferen Kriegerin zu gedenken. Ob die Geschichte historische Wurzeln hat oder reine Fiktion ist, lässt sich nicht mehr feststellen. Wichtig ist den Ladinern etwas anderes: Dolasilla verkörpert den Geist ihres Volkes – friedlich, aber entschlossen, wenn es um die Verteidigung der Heimat geht.