Wenn im Herbst die Tage kürzer werden und die Nächte in den Höhenlagen der Schweizer Alpen empfindlich kalt, bereiten sich die Sennen auf einen besonderen Moment vor: die Alpabfahrt. Von Juni bis September verbringen Schweizer Kühe ihre Tage auf saftigen Bergweiden, wo sie in aller Ruhe grasen und die würzigen Alpenkräuter genießen können. Doch mit dem nahenden Herbst wird es Zeit für die Rückkehr ins Tal. Diese Heimkehr ist nicht einfach nur ein notwendiger Viehtransport – sie ist ein jahrhundertealtes Ereignis voller Brauchtum und festlicher Stimmung.
Je nach Region und Wetterlage findet die Alpabfahrt zwischen Mitte September und Anfang Oktober statt. Meist geht man kein Risiko ein – lieber bricht man etwas früher auf, als von einem plötzlichen Schneefall überrascht zu werden. In den vergangenen Jahren hat der Klimawandel allerdings dazu geführt, dass manch ein Bauer den Zeitpunkt nach hinten verschoben hat. Die Alpweiden bleiben länger grün, was den Tieren und der Milchproduktion zugutekommt. Aber die Tradition bleibt bestehen: Wenn der Zeitpunkt gekommen ist, machen sich Menschen und Tiere gemeinsam auf den Weg ins Tal.
Ein Spektakel für alle Sinne
Schon von Weitem hört man das typische Geläut. Das ist nicht etwa das vertraute "Bimbam" der alltäglichen Kuhglocken, sondern ein tieferes, volltönendes Klangerlebnis. Was da erklingt, sind die schweren Treicheln – große, geschmiedete Glocken mit besonderem Klang. Der dumpfe, fast mystische Ton erfüllt die Luft und kündigt die nahende Herde an. Früher sollte dieser Klang böse Geister vertreiben, heute ist er untrennbar mit dem Spektakel verbunden.
Das Auge wird nicht minder verwöhnt: Die Leitkühe tragen prächtige Blumenkränze und imposante Kopfschmucke. Besonders stolz präsentieren sich die Kranzkühe – jene Tiere, die den Sommer über am meisten Milch gegeben haben oder sich als besonders gesund erwiesen haben. Ihre Dekorationen sind oft kunstvolle Gebilde aus Tannenzweigen, bunten Blumen, farbigen Bändern und kleinen Spiegeln. Dazwischen baumeln oft winzige Glocken, die heller klingen als die schweren Treicheln. Diese Schmuckkunst wird von den Sennen in mühevoller Handarbeit hergestellt – und das merkt man.
Es sind nicht nur die Kühe, die sich herausgeputzt haben. Auch die Sennen tragen ihre besten Trachten: dunkle Sennenhemden mit silbernen Knöpfen, Halstücher, Lederhosen mit kunstvollen Stickereien und die typischen Sennenkappen. In manchen Gegenden wie im Appenzell zieren kunstvolle Ohrringe aus Silber die Ohren der Männer – ein Schmuckstück, das seit Jahrhunderten zum festlichen Aufzug gehört. S'isch halt öppis Bsundrigs, wie man in der Schweiz sagen würde: Es ist eben etwas Besonderes.
Von Region zu Region: Die lokalen Besonderheiten
Die Schweiz ist ein Land der Vielfalt, und so unterscheidet sich auch die Alpabfahrt von Kanton zu Kanton. Im Appenzellerland tragen die Sennen ihre charakteristischen gelben Hosen, weißen Hemden und roten Westen. Hier ist die "Chüeli-Kultur" besonders ausgeprägt, mit eigenen Tänzen und Jodel-Traditionen, die zur Alpabfahrt gehören wie das Salz zur Suppe. In der Zentralschweiz rund um Luzern und Schwyz ist das Ereignis etwas zurückhaltender, aber nicht weniger festlich. Im Berner Oberland wiederum scheinen die Festzüge besonders geordnet – typisch bernisch eben.
Eine besonders eindrucksvolle Alpabfahrt erlebt man im Kanton Freiburg. Hier nennt man das Ereignis "Désalpe" oder im deutschsprachigen Teil "Chüjeri". Die Freiburger Schwarzweißkühe – eine besonders schwere und milchreiche Rasse – werden hier von Sennen in schwarzen Kappen und mit hölzernen Melkstühlen auf dem Rücken begleitet. Diese "Brehhüüsli" genannten Hocker sind nicht nur praktisch zum Melken, sondern dienen während des langen Abstiegs auch als willkommene Sitzgelegenheit für kurze Verschnaufpausen.
Im Wallis wiederum, wo die zierlichen Eringer-Kühe zu Hause sind, hat die Alpabfahrt einen zusätzlichen Reiz: Diese Tiere sind für ihre natürliche Kampflust bekannt, und manchmal kommt es während des Abstiegs zu kleinen Rangeleien zwischen den stolzen Kühen. Die Hirten haben alle Hände voll zu tun, die Ordnung zu bewahren – was dem Zuschauer zusätzliche Unterhaltung bietet.
Mehr als nur ein Abstieg – Die wirtschaftliche Bedeutung
Hinter der folkloristischen Fassade der Alpabfahrt steckt eine jahrtausendealte wirtschaftliche Notwendigkeit: die Transhumanz, also der saisonale Wechsel der Weidegründe. Die Alpwirtschaft ermöglicht es, die Ressourcen optimal zu nutzen. Während die Talwiesen im Sommer gemäht werden, um Winterfutter zu gewinnen, fressen die Kühe auf den Alpen das frische Gras, das dort oben erst später im Jahr sprießt.
Dieser kluge Kreislauf hat die Landwirtschaft in den Alpen überhaupt erst möglich gemacht. Der Käse, für den die Schweiz weltberühmt ist, verdankt seine besondere Qualität zu einem guten Teil den aromatischen Kräutern der Alpweiden. Ein Emmentaler oder Gruyère aus Alpenmilch hat ein deutlich intensiveres Aroma als Käse aus dem Flachland. Die Sömmerung auf der Alp ist also nicht nur Tradition, sondern auch Qualitätsmerkmal.
Die Sennerei auf der Alp ist harte Arbeit. Früh aufstehen, die Kühe melken, Käse herstellen, die Tiere hüten – Tag für Tag, wochenlang, oft ohne moderne Annehmlichkeiten. Die Arbeit als Senne oder Sennerin ist kein romantisches Abenteuer, sondern ein anspruchsvoller Job, der viel Erfahrung und Durchhaltevermögen erfordert. Die Alpabfahrt markiert das Ende dieser intensiven Zeit und wird deshalb von allen Beteiligten mit einer Mischung aus Erleichterung und Wehmut begangen.
Alpabfahrten als Besuchererlebnis
Für Touristen ist die Alpabfahrt ein Highlight im Schweizer Reisekalender. In vielen Orten hat man das erkannt und das traditionelle Ereignis zu einem regelrechten Volksfest ausgebaut. In Städten wie Charmey im Kanton Freiburg oder Leukerbad im Wallis werden die Termine der Alpabfahrten frühzeitig bekannt gegeben, damit Besucher planen können.
Der Ablauf ist meist ähnlich: Am Morgen, oft schon in der Dämmerung, beginnt der Abstieg von der Alp. Je nach Distanz kann es mehrere Stunden, manchmal sogar einen ganzen Tag dauern, bis die Herde im Tal ankommt. Die Ankündigung erfolgt durch das immer lauter werdende Geläut der Treicheln. Wer den authentischsten Eindruck haben möchte, sollte an der Strecke warten und die vorbeiziehende Herde beobachten. Der Duft von Kuh und frischem Heu, vermischt mit dem Schweiß der Arbeit, die konzentrierten Gesichter der Sennen und die stoische Ruhe der Tiere – das ist ein Erlebnis, das man mit allen Sinnen aufnimmt.
Im Dorf angekommen, löst sich die strenge Ordnung meist auf. Die Kühe werden in ihre Winterställe gebracht, während auf dem Dorfplatz das Fest beginnt. Hier kann man regionale Spezialitäten probieren, lokales Handwerk bewundern und den Klängen traditioneller Volksmusik lauschen. Besonders beliebt: der frische Alpkäse, der nach dem Sommer auf der Alp eine besondere Würze entwickelt hat. Dazu ein Stück dunkles Brot und ein Glas Weißwein aus dem Wallis oder dem Waadtland – ein Genuss, der die Essenz der Schweizer Alpen einfängt.
Die besten Orte für das Alpine Spektakel
Wer eine Alpabfahrt erleben möchte, hat in der Schweiz die Qual der Wahl. Einige Orte haben sich jedoch einen besonderen Namen gemacht und bieten neben dem traditionellen Ereignis auch ein attraktives Rahmenprogramm. In Charmey im Greyerzerland findet die Désalpe jedes Jahr am letzten Septemberwochenende statt. Hier ziehen gleich mehrere geschmückte Herden durch das Dorf, begleitet von Alphornbläsern und Fahnenschwingern. Ein großer Markt mit regionalen Produkten rundet das Ereignis ab.
In Schüpfheim im Entlebuch kann man die Alpabfahrt in einer besonders naturnahen Umgebung erleben. Die UNESCO-Biosphäre Entlebuch bildet eine malerische Kulisse für das traditionelle Ereignis. Hier legt man besonderen Wert auf Authentizität – keine übertriebene Show für Touristen, sondern gelebtes Brauchtum.
Das größte Alpabfahrtsfest der Schweiz findet vermutlich in Kerns in Obwalden statt. Rund 500 Tiere werden hier von ihren Sommerweiden ins Tal geführt. Das anschließende Fest dauert das ganze Wochenende und bietet neben kulinarischen Spezialitäten auch traditionelle Unterhaltung wie Alphornblasen und Jodlerchöre.
Wer es kleiner und persönlicher mag, sollte die Alpabfahrt in Engelberg erleben. Hier ziehen die Herden direkt am berühmten Kloster vorbei – ein eindrucksvoller Kontrast zwischen spiritueller und landwirtschaftlicher Tradition. Die Veranstaltung ist weniger touristisch geprägt und vermittelt ein authentisches Bild der lokalen Kultur.
Praktische Tipps für Alpabfahrt-Besucher
Die Alpabfahrt findet unter freiem Himmel statt – und das meist im Herbst, wenn das Wetter in den Alpen unberechenbar sein kann. Warme Kleidung und regenfeste Schuhe sind Pflicht, ebenso wie ein Regenschutz. Die Temperaturen können besonders am frühen Morgen noch recht frisch sein.
Für Fotografen bietet die Alpabfahrt ein Motiv-Eldorado. Das beste Licht findet man oft in den frühen Morgenstunden, wenn die Herden ihren Abstieg beginnen. Um die Tiere und Menschen nicht zu stören, sollte man einen respektvollen Abstand halten. Die meisten Sennen haben nichts gegen Fotos, solange der Ablauf nicht gestört wird. Ein freundliches "Grüezi" öffnet hier oft mehr Türen als ein autoritäres Auftreten.
Die genauen Termine der Alpabfahrten werden meist kurzfristig festgelegt, da sie vom Wetter abhängen. Es lohnt sich, bei den lokalen Tourismusbüros nachzufragen oder deren Websites zu besuchen. Viele Orte bieten inzwischen auch Apps an, die über aktuelle Ereignisse informieren. "Alpfahrten.ch" ist eine nützliche Ressource, die Termine in der ganzen Schweiz sammelt.
Für die Anreise empfiehlt sich die Bahn oder der Bus. Die schmalen Straßen in den Alpendörfern sind an Alpabfahrtstagen oft verstopft, und Parkplätze sind Mangelware. Das gut ausgebaute öffentliche Verkehrsnetz der Schweiz macht es einfach, auch abgelegene Täler zu erreichen. Wer dennoch mit dem Auto kommt, sollte früh aufbrechen und bereit sein, ein gutes Stück zu Fuß zu gehen.