Schweiz

Zwischen Schnee und Palmen: Unterwegs mit dem legendären Bernina Express

Eine Zugfahrt durch vier Sprachregionen, vom ewigen Eis bis zu mediterranen Palmen. Der Bernina Express verbindet die Schweiz mit Italien und ist ein fahrendes UNESCO-Welterbe.

Schweiz  |  Reiseplanung & Mobilität
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Zwischenablage

Der Bernina Express ist mehr als nur ein Zug. Er ist eine rollende Lektion in Ingenieurskunst, ein fahrplanmäßiges Spektakel der Natur und ein Stück lebendige Alpengeschichte zugleich. Die schmalspurige Bahnstrecke verbindet das schweizerische Chur mit dem italienischen Tirano und überwindet dabei mühelos, was die Natur über Jahrmillionen zu trennen versuchte. Seit 2008 zählt die Albula-Bernina-Linie zum UNESCO-Weltkulturerbe – eine Auszeichnung, die nur vier Bahnstrecken weltweit tragen dürfen.

Die Zahlen allein beeindrucken schon: 55 Tunnel, 196 Brücken und ein Höhenunterschied von 1.824 Metern. Doch die nackte Statistik verrät wenig über das eigentliche Erlebnis. Eingequetscht zwischen schneebedeckten Gipfeln schlängelt sich der rote Zug durch die Landschaft, ohne dass auch nur ein einziger Zahnradabschnitt nötig wäre – eine technische Meisterleistung aus dem frühen 20. Jahrhundert, die bis heute Bahnfans aus aller Welt anzieht.

Der gesamte Streckenverlauf von Chur nach Tirano erstreckt sich über 144 Kilometer und dauert etwa vier Stunden. Dabei durchquert der Zug nicht nur drei der vier Schweizer Sprachregionen (Deutsch, Rätoromanisch und Italienisch), sondern auch verschiedene Klimazonen. Vom alpinen Hochgebirge bis zum mediterranen Flair des Veltlins – kaum eine andere Bahnstrecke bietet binnen weniger Stunden einen derart dramatischen Szenenwechsel.

Von Chur ins Engadin: Der erste Streckenabschnitt

Die Reise beginnt typischerweise in Chur, der ältesten Stadt der Schweiz. Der knallrote Zug der Rhätischen Bahn wartet bereits am Bahnsteig und macht seinem Spitznamen alle Ehre: "Der rote Blitz" sticht tatsächlich aus jeder Alpenlandschaft hervor. Die erste Etappe führt durch das Albulatal und ist geprägt von spektakulären Ingenieurskunststücken. Besonders das Landwasserviadukt bei Filisur lässt selbst routinierte Bahnfahrer an die Fenster stürzen. Der 65 Meter hohe und 142 Meter lange Steinbogen schwingt sich elegant über das Tal, bevor der Zug direkt in einen Tunnel im Felsen verschwindet – ein Motiv, das auf zahllosen Schweiz-Postkarten prangt.

Hinter Filisur beginnt der eigentliche Aufstieg. Um die Steigung zu bewältigen, muss die Bahn Kehrtunnel nutzen – spiralförmige Tunnel, die wie eine überdimensionale Korkenzieherwendel in den Berg gebohrt wurden. Fährt man aus einem solchen Tunnel wieder heraus, hat man plötzlich einen völlig anderen Blickwinkel auf die gerade noch passierte Landschaft. Diese Art der Streckenführung ist nicht nur technisch bemerkenswert, sondern schafft auch diese einzigartigen Momente, in denen man sein eigenes Zuggleis aus einem höheren Standpunkt betrachten kann.

Nach dem Durchqueren mehrerer Tunnel und dem Überqueren zahlreicher Viadukte erreicht der Zug schließlich den Albulatunnel. Mit 5.866 Metern Länge markiert er den Übergang ins Engadin, jene hochalpine Talschaft, die für ihre Sonnentage und mondänen Urlaubsorte berühmt ist. Der Austritt aus dem Tunnel wirkt fast wie ein Kulissenwechsel im Theater: Plötzlich öffnet sich der Blick auf die weiten Hochtäler des Oberengadins mit ihren tiefblauen Seen und den markanten Berggipfeln.

Das Herz der Strecke: Über den Berninapass

In Pontresina vereinigt sich die Albulalinie mit der eigentlichen Berninalinie. Ab hier wird die Landschaft zunehmend alpiner und wilder. Der Zug passiert St. Moritz, jenen legendären Kurort, der seit Generationen die High Society aus aller Welt anzieht. Das mondäne Treiben bleibt jedoch bald zurück, denn nun beginnt der eigentliche Aufstieg zum Berninapass.

Nach dem Ortsteil Morteratsch taucht plötzlich der gleichnamige Gletscher auf – eine gewaltige Eiszunge, die sich zwischen den Bergrücken herabschiebt. Leider ist auch hier der Klimawandel sichtbar: Jahr für Jahr zieht sich das Eis zurück. Wer vor dreißig Jahren die Strecke fuhr, sah noch einen deutlich imposanteren Gletscher. Trotzdem bleibt der Anblick beeindruckend, besonders im Winterhalbjahr, wenn die Landschaft unter einer dicken Schneeschicht verborgen liegt.

Kurz hinter dem Gletscher beginnt die steilste Steigung der Strecke. Mit bemerkenswerten 70 Promille Neigung (das entspricht 7 Prozent) kämpft sich der Zug die Serpentinen hoch – und das ganz ohne Zahnradhilfe. Die Ingenieure der Bahnstrecke haben die Route so geschickt in die Landschaft eingepasst, dass ein sanftes, aber kontinuierliches Ansteigen möglich ist. Die langen Fenster des Panoramazuges kommen jetzt voll zur Geltung, denn der Blick schweift über die immer kleiner werdenden Täler bis hin zu den benachbarten Berggipfeln.

Die absolute Krönung erreicht die Fahrt an der Alp Grüm, einem Aussichtspunkt auf 2.091 Metern Höhe. Hier hält der Zug für einen kurzen Fotostopp. Ein Schritt aus dem klimatisierten Waggon genügt, um die Hochgebirgsluft zu spüren: dünn, klar und im Winter beißend kalt. Von der breiten Terrasse des Bahnhofsrestaurants blickt man hinunter ins Puschlav und kann bei gutem Wetter sogar Teile des Comer Sees in der Ferne erahnen. Der Höhenunterschied ist so drastisch, dass man fast schwindelig wird.

Nach diesem Halt wechselt die Strecke erneut ihren Charakter. In einer Reihe faszinierender Kehren beginnt der Abstieg. Wie ein roter Faden schlängelt sich der Zug nun bergab, passiert den tiefblauen Lago Bianco und erreicht kurz darauf den Berninapass – mit 2.253 Metern über dem Meer der höchste Punkt der Strecke und gleichzeitig der höchste Punkt, den eine Alpenquerung ohne Zahnradtechnik erreicht.

Abstieg ins Veltlin: Vom Hochgebirge ins mediterrane Italien

Ab dem Berninapass geht es stetig bergab. Die kargen Felslandschaften des Hochgebirges weichen allmählich saftigeren Weiden. Im Tal von Poschiavo ändert sich nicht nur die Vegetation, sondern auch die kulturelle Prägung. Die Architektur wird zunehmend italienisch, die Sprache wechselt ins Italienische, und selbst die Kaffeehäuser am Wegesrand erinnern mehr an Rom als an Zürich.

Poschiavo selbst ist ein malerisches Städtchen, das einen Zwischenstopp lohnt. Der zentrale Platz mit seinen Cafés und der imposanten Kirche San Vittore strahlt südliches Flair aus. Wer Zeit hat, sollte hier aussteigen und ein paar Stunden verweilen. Die Altstadt mit ihren pastellfarbenen Häusern und den schmalen Gassen bietet ein reizvolles Kontrastprogramm zur alpinen Wildnis, die man gerade hinter sich gelassen hat.

Nach Poschiavo folgt eines der spektakulärsten Teilstücke der gesamten Strecke: das Kreisviadukt von Brusio. Diese kreisförmige Brückenkonstruktion löst ein grundlegendes Problem der Streckenführung: Wie überwindet man einen großen Höhenunterschied auf engem Raum? Die Antwort ist so elegant wie fotogen: Der Zug beschreibt eine komplette 360-Grad-Kurve und überquert dabei sein eigenes Gleis. Aus der Luft betrachtet ähnelt die Konstruktion einer steinernen Spirale, die sich in die Landschaft schmiegt. Tatsächlich dröhnt der Bernina Express hier über ein architektonisches Meisterwerk, das längst zum Wahrzeichen der gesamten Strecke geworden ist.

Die letzten Kilometer vor Tirano werden zunehmend mediterraner. Weinberge säumen die Bahnstrecke, vereinzelt tauchen sogar Palmen auf – ein krasser Gegensatz zu den Gletschern, die man nur wenige Stunden zuvor passiert hat. Der Klimawandel auf dieser Strecke ist so eindrucksvoll, dass man meinen könnte, man hätte mehrere Länder durchquert und nicht nur die Grenze zwischen der Schweiz und Italien überfahren.

Ankunft in Tirano: Ende und möglicher Neuanfang

Tirano selbst ist eine beschauliche italienische Kleinstadt mit knapp 9.000 Einwohnern. Der Bahnhof des Bernina Express befindet sich direkt neben dem Bahnhof der italienischen Staatsbahn – getrennt durch eine Straße und unterschiedliche Spurweiten. Für viele Reisende ist Tirano allerdings nicht das endgültige Ziel, sondern eher ein Zwischenstopp. Von hier aus bieten sich verschiedene Möglichkeiten an:

Die einen nutzen den Anschluss an die italienischen Züge, um weiter nach Mailand zu fahren. Andere steigen auf Busse um, die bis zum Comer See verkehren. Und dann gibt es natürlich jene, die nach einer Mittagspause mit typisch italienischem Essen den Rückweg mit dem Bernina Express antreten – denn die Strecke lohnt durchaus, in beiden Richtungen befahren zu werden. Je nach Tageszeit und Lichtverhältnissen ergeben sich völlig neue Eindrücke.

Ein Spaziergang durch die Altstadt von Tirano führt unweigerlich zur Wallfahrtskirche Madonna di Tirano, einem imposanten Renaissancebau aus dem frühen 16. Jahrhundert. Die lokale Legende besagt, dass die Jungfrau Maria hier erschienen sei und die Errichtung einer Kirche gefordert habe. Ob man an die Geschichte glaubt oder nicht – die prachtvollen Innenräume und der detailreiche Altar sind definitiv einen Besuch wert, besonders wenn draußen die Sommerhitze brütet.

Kulinarisch hat Tirano mit typisch veltliner Spezialitäten aufzuwarten: Pizzoccheri (Buchweizennudeln mit Kohl und Käse), Bresaola (luftgetrocknetes Rindfleisch) und natürlich die Weine aus der Region sind eine willkommene Ergänzung zum Bahnfahrerlebnis. In den kleinen Osterien und Trattorien rund um den Bahnhof schmeckt man bereits deutlich, dass man in Italien angelangt ist – die deftigen Bündner Gerichte der Schweizer Seite sind längst vergessen.

Praktische Informationen für die Reise

Der Bernina Express verkehrt täglich zwischen Chur und Tirano. In der Hauptsaison von Mai bis Oktober empfiehlt sich eine frühzeitige Reservierung, da die Plätze – besonders im Panoramawagen – schnell ausgebucht sind. Der Zug besteht aus modernen Wagen mit großen Panoramafenstern, die bis ins Dach reichen und so einen nahezu uneingeschränkten Blick auf die Alpenlandschaft bieten.

Die beste Reisezeit hängt stark davon ab, was man sehen möchte. Der Winter bietet eine märchenhafte Schneelandschaft, allerdings bei oft trüben Witterungsverhältnissen. Der Spätsommer und frühe Herbst gelten bei Kennern als ideale Zeit: Die Hitze in Tirano ist erträglicher, die Berge zeigen sich meist wolkenfrei, und die Landschaft schmückt sich mit ersten Herbstfarben. Der absolute Geheimtipp sind jedoch die beiden "Zwischensaisonen" Mai und Oktober, wenn die Touristenströme geringer sind, die Züge weniger voll und die Sichtverhältnisse trotzdem gut.

Ein Wort zur Ausrüstung: Die Temperaturunterschiede zwischen dem Hochgebirge und dem Veltlin können erheblich sein. Während auf der Alp Grüm noch Schneeverwehungen die Landschaft prägen können, herrschen in Tirano vielleicht schon sommerliche 30 Grad. Schichtenkleidung ist daher Pflicht. Ebenfalls unverzichtbar: eine gute Kamera mit Polarisationsfilter, um die Reflexionen an den Panoramafenstern zu minimieren, und genügend Speicherplatz für hunderte Fotos – denn langweilige Abschnitte gibt es auf dieser Strecke nicht.

Noch ein Tipp für Fotografen: Die rechte Seite (in Fahrtrichtung) bietet auf dem Weg von Chur nach Tirano die besseren Aussichten. Auf dem Rückweg von Tirano nach Chur ist entsprechend die linke Seite zu bevorzugen. Allerdings lohnt es sich, regelmäßig die Seite zu wechseln, denn manche Highlights der Strecke – wie etwa das Kreisviadukt – lassen sich nur von einer bestimmten Seite gut einsehen.

Mehr als nur eine Zugfahrt: Erweiterungsmöglichkeiten

Wem die reine Zugfahrt nicht genügt, der kann das Bernina-Erlebnis auf verschiedene Weise ausbauen. Beliebt ist die Kombination mit dem Glacier Express, dem "langsamsten Schnellzug der Welt", der von St. Moritz nach Zermatt fährt und dabei eine nicht minder spektakuläre Route nimmt. Gemeinsam bilden beide Züge eine unvergessliche Rundreise durch die Schweizer Alpen.

Eine andere Möglichkeit ist es, unterwegs auszusteigen und Wanderungen zu unternehmen. Besonders die Gegend um den Berninapass und die Alp Grüm bietet hervorragende Wandermöglichkeiten für alle Schwierigkeitsgrade. Eine beliebte Tour führt vom Bahnhof Ospizio Bernina hinunter zum Lago Bianco und weiter zur Alp Grüm – eine leichte Wanderung mit spektakulären Aussichten, die man sogar mit Kindern unternehmen kann.

Auch Radfahrer kommen auf ihre Kosten: Die Rhätische Bahn transportiert Fahrräder (nach Voranmeldung), sodass man einzelne Etappen mit dem Rad zurücklegen kann. Besonders der Abschnitt von Tirano nach Poschiavo eignet sich hierfür, da die Steigung moderat ist und die Landschaft zum gemütlichen Radeln einlädt.

Für Eisenbahnfans gibt es entlang der Strecke mehrere Museen und Ausstellungen, die sich mit der Geschichte und Technik der Bahnlinie beschäftigen. In Bergün steht das Bahnmuseum Albula, das die Entstehungsgeschichte der UNESCO-Weltkulturstrecke anschaulich dokumentiert. Interaktive Ausstellungen, historische Fotografien und detaillierte Modelle lassen die Pionierzeit des Alpenbahnbaus wieder lebendig werden.

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