Betritt man den Boden Churs, steht man auf historischem Terrain, das älter ist als die Eidgenossenschaft selbst. Die älteste Stadt der Schweiz blickt auf eine kontinuierliche Besiedlungsgeschichte von über 5000 Jahren zurück – eine Zeitspanne, die man im kopflastigen Europa nicht allzu oft findet. Archäologische Funde aus der Bronzezeit belegen: Schon damals hatte man hier ein Auge für gute Lagen. Der eigentliche Stadtcharakter entwickelte sich jedoch unter römischer Herrschaft ab dem 1. Jahrhundert n. Chr., als der Ort den Namen "Curia Raetorum" erhielt und zum Verwaltungszentrum der Provinz Raetia Prima aufstieg.
Die strategische Bedeutung Churs war für die Römer goldwert. Wer die Alpenübergänge kontrollierte, beherrschte den Handel zwischen Norditalien und den nördlichen Provinzen. Diesen geografischen Vorteil am Zusammenfluss wichtiger Handelsstraßen wussten die römischen Strategen zu schätzen. Der antike Geograph Ptolemäus erwähnte die Siedlung bereits im 2. Jahrhundert – ein frühes Rampenlicht für die Alpenstadt. Ausgrabungen im Welschdörfli, einem heutigen Stadtteil Churs, förderten die Überreste römischer Thermen, Wohngebäude und Werkstätten zutage. Besonders interessant: Ein römisches Quartier mit Resten einer Straße, die exakt dem Verlauf der heutigen Welschdörflistraße folgt. Man könnte sagen, die städtebauliche DNA Churs trägt eindeutig römisches Erbgut.
Bischofssitz und mittelalterliche Blüte
Als das Römische Reich im 5. Jahrhundert seinem Ende entgegentorkelte, behielt Chur seine Bedeutung – nun allerdings unter neuer Führung. Spätestens seit 451 ist Chur als Bischofssitz belegt, womit die Stadt zu den ältesten Diözesen nördlich der Alpen zählt. Ein historisches Schwergewicht also. Der Bischof von Chur regierte bald nicht nur in geistlichen Fragen, sondern hatte auch die weltliche Macht fest im Griff. Im Hochmittelalter erreichte die bischöfliche Herrschaft ihren Zenit – der Bischof war Stadtherr, Grundbesitzer und politischer Akteur zugleich.
Der mächtige Hof-Komplex thront noch heute über der Altstadt: Die Kathedrale St. Mariä Himmelfahrt, ein faszinierendes Gemisch aus romanischen und gotischen Elementen, bildet das Herzstück des ehemaligen Bischofsviertels. Direkt daneben steht das Bischofsschloss, dessen älteste Teile ins 13. Jahrhundert zurückreichen. Umgeben von einer Ringmauer entstand hier eine Stadt in der Stadt – der sogenannte "Bischöfliche Hof", wo jahrhundertelang die Geschicke Churs und weiter Teile Graubündens bestimmt wurden. Das Innere der Kathedrale überrascht mit Kunstschätzen aus verschiedenen Epochen: Das gotische Hochaltarretabel, die barocke Kanzel und besonders die mittelalterlichen Fresken im nördlichen Seitenschiff sind von beachtlichem künstlerischem Wert.
Während das bischöfliche Viertel dem Klerus und seinen Bediensteten vorbehalten war, entwickelte sich unterhalb die eigentliche Bürgerstadt. Nach einem verheerenden Stadtbrand 1464 erhielt die Altstadt ihr heutiges Gesicht mit den charakteristischen spätgotischen und renaissancezeitlichen Bürgerhäusern, deren Fassaden teilweise mit Sgraffiti – kunstvollen Kratzputzornamenten – verziert sind. Der Kampf zwischen bischöflicher Macht und bürgerlichem Selbstbewusstsein durchzieht die Stadtgeschichte wie ein roter Faden. Unterm Strich ne spannende Machtprobe, die sich über Jahrhunderte hinzog.
Die Altstadt – ein historisches Kaleidoskop
Wer heute durch die Altstadt von Chur schlendert, durchquert ein museales Freilichtensemble, das ohne Eintrittsgelder auskommt. Als einzige autofreie Altstadt der Schweiz können Besucher hier ohne das nervige Hupkonzert moderner Städte in die Geschichte eintauchen. Die Poststraße und die Reichsgasse bilden die beiden Hauptachsen, von denen zahlreiche verwinkelte Gassen abzweigen. Die ältesten erhaltenen Gebäude stammen aus dem späten Mittelalter, doch die meisten Häuser entstanden nach dem großen Stadtbrand im 15. Jahrhundert. Die Baukunst nachfolgender Jahrhunderte hinterließ ebenfalls ihre Spuren: Renaissanceportale, barocke Erker und klassizistische Fassaden ergänzen das städtebauliche Ensemble.
Das Rathaus am Postplatz, ein stattlicher Renaissancebau aus dem 16. Jahrhundert, verkörpert das erstarkende Bürgertum. Im Inneren befindet sich einer der bedeutendsten Rathaussäle der Schweiz mit prächtiger Kassettendecke und historischem Mobiliar. Unweit davon steht das Antikenmuseum Rätisches Museum in einem schmucken Patrizierhaus, das Einblicke in die vorgeschichtliche und römische Vergangenheit der Region gibt. Archäologische Funde, darunter römische Alltagsgegenstände, eine bronzezeitliche Schädelkalotte und mittelalterliche Sakralkunst, dokumentieren die verschiedenen Epochen der Stadtgeschichte.
Ein architektonisches Kleinod ist die St. Martinskirche, deren Turm das Stadtbild prägt. Der schlanke, 81 Meter hohe Kirchturm überragt alles – ursprünglich romanisch, erhielt er im 16. Jahrhundert seine heutige Form. Die Kirche selbst wurde nach dem Stadtbrand als spätgotische Basilika neu errichtet. In ihrem Inneren fallen besonders die Barockorgel und die spätgotischen Chorgestühle ins Auge. Der Kirchplatz davor dient bis heute als zentraler Treffpunkt und Marktplatz. Hier mischt sich das alltägliche Leben mit dem historischen Erbe – Gemüsestände neben jahrhundertealten Mauern, Straßencafés vor Erkerhäusern. Dieses enge Nebeneinander von Geschichte und Gegenwart macht den besonderen Charme Churs aus.
Archäologische Schätze und römisches Erbe
Der bedeutendste Ort für Archäologiebegeisterte ist zweifellos der Welschdörfli-Bezirk. Hier lag das Zentrum der römischen Siedlung, und hier wurden bei Ausgrabungen die substantiellsten Überreste der antiken Stadt freigelegt. Man hat nicht zu hoch gepokert, als man in den 1960er Jahren begann, systematisch die römischen Wurzeln Churs freizulegen. Im Archäologischen Stadtmuseum am Kronenplatz sind die wichtigsten Funde ausgestellt: Keramik, Schmuck, Münzen und Werkzeuge aus dem Alltagsleben der Römer, die hier im Schatten der Alpen ihre Zivilisation etablierten.
Besonders spannend ist der Befund einer römischen Straßenkreuzung mit angrenzenden Gebäuden, deren Grundrisse im Stadtbild noch heute erkennbar sind. Die Römer bauten nach Plan und mit System – ein Erbe, das die mittelalterliche Stadtentwicklung beeinflusste. Auch Überreste einer Thermenanlage wurden entdeckt, ein Hinweis auf den gehobenen Lebensstandard, den die römischen Siedler auch in dieser Alpenregion pflegten. Einige Ausgrabungen sind konserviert und der Öffentlichkeit zugänglich – ein direktes Fenster in die Vergangenheit.
Im Rätischen Museum kann man die Geschichte regelrecht in chronologischen Schichten erleben. Von den ersten bronzezeitlichen Siedlungsspuren über keltische Funde bis hin zur römischen Epoche und dem frühen Mittelalter wird hier die Entwicklung der Region greifbar. Besonders bemerkenswert ist ein römischer Meilenstein aus der Zeit Kaiser Claudius', der die strategische Bedeutung Churs als Verkehrsknotenpunkt unterstreicht. Auch eine gut erhaltene Jupitergigantensäule verdient Aufmerksamkeit – sie belegt die Verehrung römischer Gottheiten in diesem entlegenen Winkel des Imperiums.
Von der Bischofsherrschaft zum Dreibündestaat
Während das römische Erbe vor allem archäologisch präsent ist, hat die mittelalterliche Geschichte Churs deutlichere Spuren im Stadtbild hinterlassen. Die Konflikte zwischen bischöflicher Herrschaft und bürgerlichen Freiheitsbestrebungen bilden ein faszinierendes Kapitel der Stadtgeschichte. Der Bischof residierte in seinem ummauerten Hofbezirk oberhalb der Bürgerstadt – eine räumliche Trennung, die auch die politische Spaltung symbolisierte. Anfangs war der Bischof uneingeschränkter Stadtherr, doch ab dem 13. Jahrhundert erkämpfte sich die Bürgerschaft zunehmend Autonomie.
Diese Entwicklung vollzog sich parallel zur Entstehung des "Gotteshausbundes" – einer der drei Bünde, die später zum Kanton Graubünden zusammenwachsen sollten. Der Gotteshausbund war ursprünglich ein Zusammenschluss der bischöflichen Untertanen gegen willkürliche Herrschaftsausübung. Als sich dieser Bund 1367 mit dem "Grauen Bund" und dem "Zehngerichtebund" zusammenschloss, entstand eine einzigartige politische Struktur: der Freistaat der Drei Bünde, in dem Chur eine zentrale Rolle spielte.
Die Stadt wurde zum Versammlungsort des "Bundestags", jener frühen demokratischen Institution, in der Vertreter aller drei Bünde zusammenkamen, um gemeinsame Angelegenheiten zu regeln. Der Bischof verlor immer mehr an Einfluss, behielt aber seine geistliche Rolle und blieb Grundherr im Hofbezirk. Diese komplexe Machtbalance spiegelt sich in zahlreichen Gebäuden wider: Das "Rathaus zum Löwen" war Versammlungsort des Bundestags, während das heutige Rathaus der städtischen Selbstverwaltung diente. Im ehemaligen "Franziskanerkloster" – heute ein kulturelles Zentrum – tagten zeitweise die Vertreter des Gotteshausbundes.
Chur im Wandel der Zeit: Vom Mittelalter in die Moderne
Trotz ihrer historischen Bedeutung war Chur keine große Stadt – im Mittelalter lebten hier kaum mehr als 1.500 Menschen, zu Beginn der Neuzeit vielleicht 3.000. Die Reformation erreichte die Stadt in den 1520er Jahren und führte zu konfessionellen Spannungen. Während der Bischof und sein Hof katholisch blieben, schloss sich die Bürgerstadt mehrheitlich dem reformierten Bekenntnis an – zwei Glaubenswelten, nur durch eine Mauer getrennt. Diese konfessionelle Spaltung prägt die Stadt bis heute, wenngleich in deutlich entspannterer Form. Die Kathedrale blieb katholisch, die St. Martinskirche wurde zum reformierten Gotteshaus.
Eine Zeitenwende erlebte Chur mit dem Anschluss an das Eisenbahnnetz im Jahr 1858. Der Bahnhof entstand außerhalb der historischen Altstadt und zog neue Geschäftsviertel und Wohnquartiere nach sich. Die Stadt wuchs nun erstmals über ihre mittelalterlichen Grenzen hinaus. Dennoch blieb der historische Kern weitgehend unversehrt – ein Glücksfall, der Chur heute zu einem lebendigen Freilichtmuseum macht. Die Industrialisierung ging an Chur nicht spurlos vorüber, fiel aber moderater aus als in anderen Schweizer Städten. Der Tourismus gewann früh an Bedeutung, da Chur als Ausgangspunkt für Alpenreisen und später für die Rhätische Bahn diente.
Der historische Kern Churs überstand auch die Modernisierungswellen des 20. Jahrhunderts relativ unbeschadet. In den 1980er Jahren setzte eine behutsame Altstadtsanierung ein, die historische Bausubstanz erhielt und gleichzeitig zeitgemäße Nutzungen ermöglichte. Heute präsentiert sich die Altstadt als lebendiges Ensemble, in dem Fachgeschäfte, Restaurants und Kultureinrichtungen Räume beleben, die teilweise ein halbes Jahrtausend alt sind. Man hat's hier ganz offensichtlich verstanden, Geschichte nicht einzumotten, sondern sie lebendig zu halten.
Kulinarisches Erbe und Weinkultur
Schon die Römer schätzten das milde Klima des "Churer Rheintals" für den Weinbau. Die sonnigen Hänge rund um die Stadt eignen sich hervorragend für den Anbau von Reben, was die Römer rasch erkannten und nutzten. Diese Tradition hat die Jahrhunderte überdauert – noch heute prägen Weinberge die Umgebung Churs, insbesondere die Lagen in den Nachbargemeinden Fläsch, Maienfeld und Jenins. Die lokalen Winzer kultivieren traditionelle Sorten wie Blauburgunder (Pinot Noir) und den autochthonen weißen Completer, der fast nur hier angebaut wird und zu den ältesten Rebsorten Europas zählt.
Die Bündner Küche, die in Churs Restaurants gepflegt wird, verbindet alpine Traditionen mit Einflüssen aus dem nahen Italien. Die "Bündner Gerstensuppe" und das "Capuns" – in Mangoldblätter gewickelte Spätzleteigröllchen – gehören zu den lokalen Spezialitäten. Das berühmte "Bündnerfleisch", luftgetrocknetes Rindfleisch, war ursprünglich eine Konservierungsmethode für den langen Winter. Heute ist es eine Delikatesse, die man in den traditionellen "Grotti" (rustikalen Gaststätten) mit einem Glas lokalen Wein genießen kann. Die "Nusstorte", ein karamellisierter Walnusskuchen, rundet als süße Spezialität das kulinarische Erbe ab.
In der Altstadt reihen sich historische Gaststätten aneinander, deren Ursprünge oft bis ins Mittelalter zurückreichen. Das "Gasthaus Stern" mit seiner malerischen Stube kann eine Geschichte bis ins 15. Jahrhundert nachweisen. Hier berieten sich einst Händler und Politiker bei einem Krug Wein – heute sitzen an denselben Tischen Touristen und Einheimische. Die "Hofkellerei" im bischöflichen Hof führt die Tradition des geistlichen Weinbaus fort und bietet Verkostungen historischer Weinsorten an. Und wer's rustikaler mag, findet in der "Bündner Herrschaft" zahlreiche Weingüter, die zur Degustation einladen. Die lokale Weinkultur ist kein museales Relikt, sondern gelebte Tradition – die Römer hätten ihre helle Freude dran.
Praktische Tipps
Die kompakte Größe der Churer Altstadt macht sie ideal für Erkundungen zu Fuß. Ein Rundgang lässt sich bequem in 2-3 Stunden bewältigen, wobei man für Museumsbesuche zusätzliche Zeit einplanen sollte. Der ideale Startpunkt ist der Postplatz im Herzen der Altstadt. Von hier aus führen die beiden Hauptachsen – Poststraße und Reichsgasse – durch den historischen Kern. Die Tourist Information am Bahnhof bietet Stadtpläne und thematische Broschüren, darunter auch einen spezialisierten "Archäologischen Stadtführer".
Die wichtigsten Museen befinden sich in fußläufiger Distanz zueinander. Das Rätische Museum (Di-So 10-17 Uhr) bietet den besten Überblick über die Stadtgeschichte von der Bronzezeit bis ins 19. Jahrhundert. Das Domschatzmuseum in der Kathedrale (Mo-Sa 9-17 Uhr, So 12-17 Uhr) präsentiert kirchliche Kunstschätze und liturgische Geräte. Das Bischöfliche Schloss kann nur im Rahmen einer Führung besichtigt werden – diese finden von Mai bis Oktober jeweils dienstags und donnerstags um 14 Uhr statt.
Wer tiefer in die Geschichte eintauchen möchte, sollte einen Abstecher ins nahe Domleschg-Tal unternehmen. Hier stehen zahlreiche mittelalterliche Burgen, die eng mit der Geschichte Churs und der Drei Bünde verknüpft sind. Ein Tagesausflug mit der Rhätischen Bahn führt in die Landschaft, die einst vom Bischof von Chur beherrscht wurde – und bietet gleichzeitig spektakuläre Ausblicke auf die Bergwelt. Der historische Reichtum dieser Region ist schlichtweg verblüffend; hinter jeder Bergkuppe scheint ein neues Kapitel der Geschichte zu warten.