Wer den langsamsten Schnellzug der Welt besteigt, muss Zeit mitbringen. Acht Stunden dauert die Fahrt im Glacier Express von Zermatt nach St. Moritz – oder andersherum. Die 291 Kilometer lange Schmalspurstrecke überwindet dabei 291 Brücken, durchquert 91 Tunnel und klettert auf 2.033 Meter Höhe am Oberalppass. Kein Wunder, dass der rote Panoramazug seit 1930 Reisende aus aller Welt anzieht. Auf der Strecke durchquert man drei Kantone (Wallis, Uri und Graubünden) und vier Sprachregionen, während sich hinter den großen Panoramafenstern die Szenerien wie Diashow-Bilder abwechseln: schroffe Felswände, tiefe Schluchten, sanfte Alpweiden und glitzernde Gletscherzungen.
Die Fahrt verbindet zwei der bekanntesten Schweizer Bergdestinationen. Im Westen Zermatt, das autofreie Bergdorf im Schatten des Matterhorns. Im Osten St. Moritz, das mondäne Alpenstädtchen im Engadin, wo der moderne Wintertourismus seinen Anfang nahm. Dazwischen liegt eine technische Meisterleistung der Eisenbahngeschichte, bei der besonders die Rhätische Bahn im Abschnitt Albula/Bernina zum UNESCO-Weltkulturerbe zählt. Im schmucken Panoramazug mit den großen Fenstern wird selbst das zähe Schneckentempo zur Tugend – schließlich geht's nicht um schnelles Ankommen, sondern ums ausgiebige Hinschauen.
Die historische Entwicklung
Die Geschichte des Glacier Express beginnt eigentlich lange vor seiner offiziellen Geburtsstunde. Schon Ende des 19. Jahrhunderts entstanden – oftmals unter schwersten Bedingungen – die einzelnen Bahnstrecken, die heute die Gesamtroute bilden. Die Visp-Zermatt-Bahn (heute Teil der Matterhorn Gotthard Bahn) eröffnete 1891, die Albulabahn der Rhätischen Bahn folgte 1903, und erst 1926 wurde mit der Furka-Oberalp-Bahn die letzte Lücke im Streckennetz geschlossen.
Am 25. Juni 1930 rollte dann der erste offizielle Glacier Express von Zermatt nach St. Moritz – damals noch ein Sommerzug, da die Strecke im Winter wegen Schneemassen und Lawinengefahr nicht passierbar war. Erst mit der Eröffnung des Furka-Basistunnels 1982 wurde der Ganzjahresbetrieb möglich. Zuvor mussten die Züge über den spektakulären, aber lawinengefährdeten Furka-Scheiteltunnel fahren. Teile dieser ursprünglichen Strecke werden heute noch von der Dampfbahn Furka-Bergstrecke als Museumsbahn betrieben – ein lohnendes Zusatzabenteuer für Eisenbahnfans.
Der Name "Glacier Express" entstand übrigens nicht wegen der Gletscher entlang der Strecke, sondern weil der Zug ursprünglich am Rhonegletscher vorbeifuhr. Und "Express" war schon damals eher ironisch gemeint – die Durchschnittsgeschwindigkeit hat sich in neunzig Jahren Betrieb von rund 30 auf gerade mal 39 km/h erhöht. Das Bahnpersonal nennt ihn manchmal augenzwinkernd "Glacier Local".
Die Route im Detail
Die Reise beginnt in Zermatt (1.604 m) am Fuße des Matterhorns. Das autofreie Bergdorf ist bereits für sich ein Highlight – keine stinkenden Abgase, stattdessen elektrische Taxis und Pferdekutschen. Kurz nach der Abfahrt bleibt der Panoramazug erstmals stehen: Fotohalt mit Blick aufs Matterhorn. Danach geht's durch das enge Mattertal talabwärts. Bei Brig schwenkt der Zug ins Rhonetal ein. Die Fahrt führt zunächst Richtung Osten durch das breite Tal des jungen Rhones, vorbei an Rebhängen und mittelalterlichen Burgen.
Ab Oberwald wird's spektakulär. Der Zug verlässt das Rhonetal und klettert in Kehren und durch den 15 Kilometer langen Furka-Basistunnel in den Kanton Uri. Bald darauf erreicht man in Andermatt den Anschluss an die Gotthardbahn. Von hier aus windet sich der Glacier Express hinauf zum höchsten Punkt der Strecke, dem Oberalppass (2.033 m). Die Passhöhe markiert auch die Sprachgrenze: Von hier an dominiert Rätoromanisch.
Nach dem Pass geht's bergab ins Vorderrheintal, wo der junge Rhein als schmales Rinnsal seinen Weg beginnt. Nach Ilanz wird das Tal enger und erreicht bei der Rheinschlucht, auch "Swiss Grand Canyon" genannt, seinen dramatischsten Punkt. Die bis zu 400 Meter tiefe Schlucht zählt zu den Höhepunkten der Strecke. Kurz darauf erreicht der Zug Reichenau, wo der Vorder- und der Hinterrhein zusammenfließen.
Der technisch anspruchsvollste Streckenabschnitt folgt im Albulatal. Hier überwindet die Bahn mittels Kehrschleifen, Kehrtunneln und Viadukten einen Höhenunterschied von fast 700 Metern. Besonders eindrucksvoll ist das Landwasserviadukt bei Filisur, wo der Zug auf einem geschwungenen, 65 Meter hohen Viadukt direkt in einen Tunnel im Felsen einfährt – ein beliebtes Fotomotiv. Der krönende Abschluss der Reise ist die Fahrt durchs sonnenverwöhnte Engadin mit seinen glitzernden Seen nach St. Moritz (1.775 m).
Die besten Reisezeiten
Im Gegensatz zu früher fährt der Glacier Express heute ganzjährig. Trotzdem gibt es jahreszeitlich bedingte Unterschiede. Im Winterhalbjahr (Dezember bis April) verwandelt Schnee die Landschaft in ein Wintermärchen. Besonders reizvoll ist die Fahrt bei Neuschnee und Sonnenschein, wenn die weiße Pracht im Licht glitzert. Die Wintersaison bietet auch den Vorteil, dass der Zug weniger stark ausgelastet ist – zumindest unter der Woche und außerhalb der Weihnachtsferien.
Die Hauptsaison liegt zweifellos im Sommer, wenn die Alpwiesen in voller Blüte stehen und das Wetter am zuverlässigsten ist. Von Juni bis September fährt der Zug täglich mehrmals, und die Aussicht ist dank der langen Tage besonders gut. Allerdings sollte man in dieser Zeit frühzeitig buchen, da die Plätze schnell ausverkauft sind. Übrigens sind auch die Übergangszeiten einen Blick wert: Im Frühjahr (Mai) präsentiert sich die Natur in frischem Grün, während im Herbst (Oktober) die Lärchenwälder golden leuchten – ein Farbspektakel vor der Bergkulisse.
Wochentags fährt der Zug in der Regel weniger voll als am Wochenende. Wer flexibel ist, sollte einen Dienstag oder Mittwoch wählen. Die Wetterprognose sollte man vor der Buchung im Auge behalten – nichts ist ärgerlicher als eine Fahrt bei dichtem Nebel, wenn die grandiose Aussicht verborgen bleibt. Bei den Abfahrtszeiten gilt: Morgenstunden haben Gold im Munde. Das Licht steht dann tiefer und sorgt für plastischere Landschaftseindrücke.
Praktische Fahrinformationen
Der Glacier Express verkehrt je nach Saison ein- bis dreimal täglich in beide Richtungen. Die Fahrtdauer beträgt knapp acht Stunden. In der Hauptsaison empfiehlt sich eine Reservierung mehrere Wochen im Voraus, besonders für die 1. Klasse oder den noch exklusiveren Excellence Class, der 2019 eingeführt wurde. Die Reservierung ist übrigens Pflicht und kostet zusätzlich zum normalen Fahrpreis eine Gebühr.
Der Zug bietet drei Komfortklassen: Die 2. Klasse ist komfortabel und für die meisten Reisenden völlig ausreichend. In der 1. Klasse genießt man mehr Beinfreiheit und größere Fenster. Die Excellence Class, auf einem Wagen pro Zug, bietet ultimativen Luxus mit persönlichem Concierge, garantiertem Fensterplatz, einem 5-Gang-Menü und Weinbegleitung – kostet allerdings auch entsprechend mehr.
An Bord wird in allen Klassen ein Bordrestaurant mit frisch zubereiteten Mahlzeiten angeboten. Die Küche serviert Schweizer Spezialitäten wie Käsefondue (ein Erlebnis im fahrenden Zug!), aber auch internationale Gerichte. Die Preise sind gehoben, die Qualität meist gut. Alternativ kannst du auch eigene Verpflegung mitbringen.
Für die Tickets existieren verschiedene Optionen. Einzelfahrten sind mit normalen Bahntickets möglich, günstiger wird's mit einem Schweizer Generalabonnement oder dem Swiss Travel Pass für Touristen. Diese Pässe decken die Grundfahrt ab, die Reservierungsgebühr kommt jedoch in jedem Fall hinzu. Ein Spartipp: Die Strecke lässt sich auch mit regulären Regionalzügen abfahren – weniger komfortabel, dafür ohne Reservierungspflicht und deutlich günstiger.
Lohnenswerte Zwischenstopps
Obwohl viele Reisende die komplette Strecke an einem Tag absolvieren, lohnt sich ein mehrtägiges Touring mit Übernachtungen unterwegs. Zu den interessantesten Zwischenstopps zählen:
Brig: Die kleine Stadt mit dem imposanten Stockalper-Palast bietet einen guten Ausgangspunkt für Abstecher ins Wallis. Von hier kannst du beispielsweise einen Tagesausflug nach Leukerbad mit seinen Thermalbädern unternehmen.
Andermatt: Das einst verschlafene Bergdorf im Urserental erlebt gerade einen Aufschwung als Luxusdestination. Die Lage am Fuße des Gotthardpasses macht es zum idealen Ausgangspunkt für Bergwanderungen. Besonders schön ist der Vier-Quellen-Weg, der zu den Ursprüngen von Rhein, Rhone, Reuss und Ticino führt.
Disentis: Das 1.400 Jahre alte Benediktinerkloster Disentis thront majestätisch über dem Ort und kann besichtigt werden. Die umliegenden Berge bieten im Sommer hervorragende Wandermöglichkeiten, im Winter ein familienfreundliches Skigebiet.
Chur: Die älteste Stadt der Schweiz verfügt über eine malerische Altstadt mit verwinkelten Gassen und zahlreichen Restaurants. Das Rätische Museum gibt Einblick in die Geschichte Graubündens. Von hier aus lassen sich Ausflüge ins Arosa-Tal oder nach Bad Ragaz unternehmen.
Filisur: Der kleine Ort ist Ausgangspunkt für Wanderungen zum berühmten Landwasserviadukt, das man vom Zug aus nur kurz zu sehen bekommt. Vom Aussichtspunkt hoch über dem Tal lassen sich fantastische Fotos schießen, besonders wenn der rote Zug über das Viadukt fährt.
Fotografieren im Glacier Express
Die großzügigen Panoramafenster des Glacier Express bieten optimale Voraussetzungen für Landschaftsaufnahmen. Allerdings stellen die Lichtverhältnisse und die Reflexionen im Glas eine Herausforderung dar. Hier ein paar Tipps für bessere Fotos: Eine Polarisationsfilter reduziert Spiegelungen erheblich. Halte die Kamera möglichst nah ans Glas oder nutze eine Gummiblende, um Reflexionen zu minimieren. Bei Tunneleinfahrten vorausplanen – deine Augen brauchen Zeit zur Anpassung, die Kamera ist schneller.
Die Zickzack-Streckenführung bietet ein besonderes Schauspiel: An manchen Stellen kann man den eigenen Zug in einer Kurve fotografieren. Diese Möglichkeit ergibt sich besonders gut im Albulatal. Für ambitionierte Fotografen empfiehlt sich übrigens eine mehrtägige Reise, bei der man an fotografisch besonders lohnenden Stellen aussteigt und den nächsten Zug nimmt – so kann man den Glacier Express beispielsweise am Landwasserviadukt von außen ablichten.
Ein Geheimtipp für Fotofreunde: Sitze unbedingt in Fahrtrichtung rechts (bei der Fahrt von Zermatt nach St. Moritz) oder links (in der Gegenrichtung). Der Grund: An der spektakulären Rheinschlucht und am Oberalppass hast du so die bessere Aussicht. In den modernen Panoramawagen sind übrigens auch die Dachbereiche verglast, was besonders in engen Tälern und an steilen Felswänden eindrucksvolle Perspektiven ermöglicht.
Besonderheiten und Insider-Tipps
Während der Fahrt informiert ein mehrsprachiges Audiosystem über Besonderheiten entlang der Strecke. In den neueren Wagen wurde dies durch Infotainment-Bildschirme an jedem Platz ersetzt – praktisch, aber ein bisschen vom ursprünglichen Charme hat der Zug dadurch verloren. Für Technikbegeisterte gibt's in St. Moritz und Chur kleine Eisenbahnmuseen, die interessante Einblicke in die Ingenieurskunst hinter dem Glacier Express bieten.
Für Bahnfans mit Schwachsinn fürn Nahverkehr bietet die Strecke noch eine Besonderheit: Bei Disentis/Mustér wechselt nicht nur das Bahnunternehmen (von der Matterhorn Gotthard Bahn zur Rhätischen Bahn), sondern auch das Stromsystem. Hier werden die Lokomotiven gewechselt – ein kurzer technischer Zwischenstopp, den man für ein schnelles Foto außerhalb des Zuges nutzen kann.
Wer zufällig im März unterwegs ist, sollte die Augen offen halten: Auf der Hochebene von Oberalp findet im Frühjahr die "Ucliva" statt, ein traditionelles Fest zur Verabschiedung des Winters. Dorfbewohner in traditionellen Kostümen und mit großen Kuhglocken vertreiben symbolisch den Winter – ein skurriles Spektakel, das man vom fahrenden Zug aus beobachten kann.
Ein wenig bekanntes Detail: Bei der Fahrt über den Oberalppass überquert man die europäische Wasserscheide. Regenwasser, das westlich des Passes fällt, fließt über die Rhone ins Mittelmeer, östlich des Passes gelangt es über den Rhein in die Nordsee – ein geografischer Moment, der mehr Beachtung verdient.