Schweiz

Trient-Tal und Martigny: Ein oft übersehener Alpenschatz im Dreiländereck

Dort, wo Schweiz, Italien und Frankreich sich die Hand reichen, versteckt sich eine Region voller Überraschungen. Das Trient-Tal und Martigny bieten mehr als nur Durchreisecharme – sie sind die unterschätzte Essenz der Alpen mit römischem Erbe und Walliser Weinanbau.

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Zwischenablage

An der Schnittstelle dreier Länder liegt eine Region, die auf keiner touristischen Hitliste ganz oben steht – genau das macht ihren besonderen Reiz aus. Das Trient-Tal (Val de Trient) auf der Schweizer Seite und die Stadt Martigny bilden einen geografischen Knotenpunkt, der seit Jahrhunderten als Verbindungsweg zwischen den Kulturen fungiert. Hier treffen alpine Bergwelten auf mediterrane Einflüsse, hier vermischen sich schweizerische Präzision, italienische Lebensfreude und französisches Savoir-vivre zu einem unaufdringlichen Ganzen.

Die Region lässt sich am besten in der Übergangszeit zwischen Frühling und Herbst erkunden. Ab Mai, wenn die Pässe allmählich schneefrei werden, bis in den Oktober hinein, wenn die Weinberge in goldenes Licht getaucht sind, zeigt sich das Gebiet von seiner zugänglichsten Seite. Winters ist's hier stellenweise verdammt still – zu still für manche –, doch genau diese Ruhe suchen andere.

Wer mit dem Auto unterwegs ist, merkt schnell: Dieses Dreiländereck ist kein Ort für Hektik. Die Straßen schlängeln sich durch Täler und über Pässe, vorbei an kleinen Ortschaften, die manchmal nicht mehr als eine Handvoll Häuser umfassen. Gerade mal 30 Kilometer Luftlinie trennen den Schweizer Kanton Wallis von der italienischen Region Aostatal und dem französischen Département Haute-Savoie – eine Distanz, für die man auf den kurvigen Bergstraßen allerdings seine Zeit braucht.

Martigny – Wo die Römer zu Hause waren

Die Stadt Martigny, das antike Octodurus, ist der perfekte Ausgangspunkt für Erkundungen der Region. Hier haben die Römer Spuren hinterlassen, die bis heute das Stadtbild prägen. Das Amphitheater, einst Schauplatz blutiger Gladiatorenkämpfe, ist heute ein friedlicher Ort, an dem im Sommer Konzerte stattfinden. Die römischen Bäder und der Tempel erinnern an die strategische Bedeutung, die dieser Ort einst hatte – als Kontrollposten am Großen St. Bernhard-Pass, über den schon Legionen in Richtung Norden zogen.

Die Fondation Pierre Gianadda gehört zu den kulturellen Höhepunkten Martignys. Entstanden über den Überresten eines römischen Tempels, beherbergt sie heute wechselnde Kunstausstellungen internationalen Ranges. Pablo Picasso, Marc Chagall, Paul Klee – sie alle waren schon hier zu Gast. Der angeschlossene Skulpturenpark mit Werken von Rodin, Moore und Niki de Saint Phalle lädt zum Flanieren ein. Absonderlich und gleichzeitig faszinierend: Im selben Gebäude steht eine Sammlung antiker Automobile, die so gar nicht zum Rest passen will – und gerade deshalb funktioniert.

Martigny ist aber längst nicht nur ein Freilichtmuseum römischer Geschichte. Die Stadt lebt. An der Place Centrale trifft man sich zum Kaffee, die Markttage bringen Leben in die Gassen der Altstadt. Das Bayard'sche Haus mit seinem markanten Turm erinnert an die Zeit, als Martigny noch Martinach hieß und zum Heiligen Römischen Reich gehörte. Hoch oben thront La Bâtiaz, eine mittelalterliche Festung aus dem 13. Jahrhundert, von deren Turm aus man einen grandiosen Blick über das Rhonetal hat. Manchmal, wenn der Wind richtig steht, kann man sogar das Rauschen der Rhone hören.

Walliser Wein – Die Steilhänge der Geschmäcker

Das Wallis ist das bedeutendste Weinbaugebiet der Schweiz, und das merkt man auch in der Region um Martigny. Die Rebberge ziehen sich die Hänge hinauf, kunstvoll angelegt in Terrassen, die der Schwerkraft zu trotzen scheinen. Die steilen Südhänge, der felsige Boden und über 300 Sonnentage im Jahr schaffen ideale Bedingungen für den Weinbau.

Besonders stolz ist man hier auf die Petite Arvine, eine autochthone weiße Rebsorte, die ihren Ursprung im Wallis hat. Sie bringt mineralische Weine mit feiner Salzigkeit hervor – ein Geschmackserlebnis, das man nicht so schnell vergisst. Nicht weniger charaktervoll sind die Rotweine aus der Cornalin-Traube, einem weiteren Walliser Original, das intensive, körperreiche Weine mit Aromen von schwarzen Kirschen und Gewürzen ergibt.

In den kleinen Weinkellereien der Region wird Gastfreundschaft großgeschrieben. Eine "Dégustation" (Verkostung) gehört fast zum Pflichtprogramm. Dabei erfährt man nicht nur etwas über die Weine, sondern auch über die Menschen, die sie machen. Der Weinbau ist hier kein Business, sondern Familientradition und Herzensangelegenheit. Die Winzer erzählen gerne von den Herausforderungen der Handarbeit an den steilen Hängen, wo Maschinen kaum eingesetzt werden können. Mancherorts werden die Trauben noch mit der Seilbahn ins Tal transportiert – ein Bild, das man so schnell nicht vergisst.

Wer sich für die Zusammenhänge von Terroir und Geschmack interessiert, sollte unbedingt den "Chemin du Vignoble" erwandern – einen Weinwanderweg, der sich durch die Rebberge schlängelt und immer wieder Einblicke in die Arbeit der Winzer gewährt. Die Strecke ist nicht allzu anspruchsvoll, aber hüte dich vor zu viel "Dégustation" unterwegs – der Rückweg könnte sonst länger dauern als geplant.

Das Trient-Tal – Wilde Natur und versteckte Dörfer

Vom geschäftigen Martigny führt eine kurvenreiche Straße hinauf ins Val de Trient. Hier wird die Luft merklich frischer, die Landschaft wilder. Das schmale Tal wird vom gleichnamigen Fluss Trient durchzogen, der sich seinen Weg durch die Felsen gesucht hat und stellenweise tiefe Schluchten gebildet hat. Die Gorges du Trient bei Vernayaz sind ein Naturschauspiel, das seit dem 19. Jahrhundert Besucher anzieht. Über Holzstege spaziert man durch die enge Schlucht, während unter einem das türkisfarbene Wasser gurgelt und tost.

Im Sommer herrscht hier angenehme Kühle – ein willkommener Kontrast zur Hitze des Rhonetals. Überhaupt ist das Trient-Tal ein Ort der Gegensätze. Schroffe Felswände kontrastieren mit sanften Almwiesen, auf denen im Sommer die Kühe grasen. Schwarze Eringer-Rinder, eine alte Walliser Rasse, sind hier zu Hause. Sie sind klein, aber wehrhaft – die "Reines" (Königinnen) unter ihnen werden bei traditionellen Kuhkämpfen ermittelt, die nichts mit spanischen Stierkämpfen gemein haben, sondern vielmehr natürliches Rangordnungsverhalten widerspiegeln.

Die Dörfer im Tal haben ihren ursprünglichen Charakter bewahrt. In Finhaut, einst ein mondäner Kurort, zeugen alte Grandhotels von vergangenen Glanzzeiten. Heute ist es ein ruhiger Ort, der als Ausgangspunkt für Wanderungen dient. Trient selbst, ein kleines Dorf mit kaum mehr als hundert Einwohnern, wird dominiert von seiner neugotischen Kirche mit dem roten Turm – ein auffälliger Farbtupfer in der alpinen Landschaft.

In Vallorcine, bereits auf französischer Seite, spürt man den Einfluss einer anderen Kultur. Hier wird entschleunigt, hier zählt das "bien vivre". Die Architektur der alten Bauernhäuser unterscheidet sich merklich von der schweizerischen – breitere Dächer, mehr Holzelemente, eine andere Formensprache. In den kleinen Restaurants serviert man deftige Spezialitäten wie Tartiflette, ein Kartoffelgericht mit Reblochon-Käse, Speck und Zwiebeln, das nach einer Wanderung genau das Richtige ist.

Der große weiße Berg – Mont Blanc und seine Trabanten

Die Nähe zum Mont-Blanc-Massiv ist allgegenwärtig. Der "große weiße Berg", wie ihn die Franzosen nennen, ist mit 4810 Metern der höchste Berg der Alpen und dominiert die Landschaft. Von erhöhten Punkten im Trient-Tal bietet sich ein spektakulärer Blick auf den schneebedeckten Riesen und seine Nachbargipfel.

Die Tour du Mont Blanc, eine der berühmtesten Fernwanderstrecken Europas, führt durch diese Region. Der etwa 170 Kilometer lange Rundweg um das Mont-Blanc-Massiv verläuft durch die Schweiz, Italien und Frankreich und passiert dabei auch das Trient-Tal. Wanderer aus aller Welt nehmen diese Herausforderung an und sind von Juni bis September auf den Wegen anzutreffen. Die komplette Tour dauert etwa 7 bis 10 Tage, aber einzelne Etappen lassen sich auch gut als Tageswanderungen bewältigen.

Für Gipfelstürmer gibt es zahlreiche Möglichkeiten, ihr Können unter Beweis zu stellen. Die Aiguilles Dorées (Goldene Nadeln) im Trient-Gebiet bieten anspruchsvolle Kletterrouten. Der Trient-Gletscher, einer der größten der Alpen, zieht Bergsteiger und Skitourengeher an. Sein Rückgang in den letzten Jahrzehnten ist allerdings drastisch – ein deutliches Zeichen des Klimawandels, das nachdenklich stimmt.

Wer es gemütlicher mag, nimmt die Seilbahn von Le Châtelard nach Emosson. Der dortige Stausee mit seiner mächtigen Betonmauer ist ein beeindruckendes Bauwerk und gleichzeitig Ausgangspunkt für leichtere Wanderungen. Bizarr und einzigartig: In den Felsen oberhalb des Stausees wurden Dinosaurierspuren entdeckt, die über 240 Millionen Jahre alt sind. Ein ausgeschilderter Weg führt zu diesen stummen Zeugen einer längst vergangenen Ära.

Zwischen den Welten – Kulturelle Melange und Grenzgänge

Im Dreiländereck vermischen sich nicht nur Sprachen und Küchen, sondern auch Mentalitäten. Die Menschen hier sind pragmatisch und weltoffen – eine Notwendigkeit, wenn man seit Jahrhunderten an einer wichtigen europäischen Transitroute lebt. In Martigny spricht man Französisch, aber mit schweizerdeutschem Einschlag. In den Restaurants stehen Walliser Spezialitäten wie Raclette und Trockenfleisch neben französischen Klassikern und italienischen Pastagerichten.

Die Pässe der Region haben schon immer Menschen und Waren verbunden. Der Col de la Forclaz (1526 m) zwischen Martigny und Chamonix war schon zu Römerzeiten ein wichtiger Übergang. Der Grand-Saint-Bernard-Pass (2469 m) ist einer der ältesten Alpenpässe überhaupt – hier zog einst Hannibal mit seinen Elefanten nach Italien. Das gleichnamige Hospiz auf der Passhöhe, gegründet im 11. Jahrhundert, bietet noch heute Unterkunft für Reisende. Die berühmten Bernhardinerhunde, die einst verirrten Wanderern halfen, werden hier noch gezüchtet.

In der Architektur spiegeln sich die unterschiedlichen Einflüsse wider. Die Walliser Stadel, traditionelle Holzhäuser auf Steinsockeln, stehen neben Bauten im französischen Chaletstil. In Martigny findet man sogar Gebäude im italienischen Stil, die an die Zeit erinnern, als das Aostatal und das Wallis enger verbunden waren.

Die Tatsache, dass man innerhalb weniger Stunden drei Länder bereisen kann, macht die Region zu einem besonderen Reiseziel. Morgens ein Schweizer Frühstück, mittags eine französische Brasserie, abends eine italienische Trattoria – kulinarische Grenzgänge sind hier Programm. Dabei muss man nicht mal besonders weit fahren.

Praktische Informationen und Geheimtipps

Die Anreise nach Martigny ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln bequem möglich. Der Bahnhof wird regelmäßig von Zügen aus Lausanne, Genf und Brig angefahren. Im Trient-Tal verkehren Postautos, die die kleinen Ortschaften anbinden. Mit dem Mont-Blanc Express, einer spektakulären Schmalspurbahn, gelangt man von Martigny über Chamonix bis nach St. Gervais in Frankreich – eine Fahrt, die einem die schönsten Ausblicke der Region präsentiert.

Die Übernachtungsmöglichkeiten reichen von einfachen Berghütten über gemütliche Chambres d'hôtes (die französische Version von B&B) bis hin zu komfortablen Hotels in Martigny. Eine besondere Erfahrung bietet das Übernachten auf einer Alp – hier bekommt man nicht nur frischen Alpkäse zum Frühstück, sondern auch Einblick in das Leben der Sennen, die den Sommer mit ihren Tieren auf den Bergweiden verbringen.

Ein Geheimtipp für Kulturinteressierte: Das kleine Dorf Salvan im Trient-Tal. Hier verbrachte der Physiker Guglielmo Marconi im Jahr 1895 entscheidende Wochen für seine Experimente zur drahtlosen Telegrafie, die schließlich zur Entwicklung des Radios führten. Ein kleines Museum erinnert an diese Zeit.

Wer authentische Walliser Produkte sucht, sollte den Wochenmarkt in Martigny (donnerstags) besuchen oder direkt bei den Produzenten einkaufen. Alpkäse, Trockenwürste, Honig und natürlich Wein – die regionale Palette ist vielfältig und von hoher Qualität. In der Käserei von Étroubles auf der italienischen Seite kann man bei der Herstellung des berühmten Fontina-Käses zusehen, in Aosta lohnt ein Besuch der historischen Markthallen.

Für Familien mit Kindern bietet die Region ebenfalls einiges. Der Tierpark "Les Marécottes" kombiniert einen Zoo mit einem natürlichen Felsschwimmbad – ungewöhnlich, aber reizvoll. Der "Parc d'Attractions du Châtelard" bei Finhaut ist eine nostalgische Anlage mit einer Standseilbahn aus dem Jahr 1920, die kürzlich renoviert wurde. Und die "Fondation Barry" in Martigny widmet sich den Bernhardinerhunden und ihrer Geschichte – hier dürfen die sanften Riesen sogar gestreichelt werden.

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