Zwischen den bekannten Skigebieten von Flaine und der Stadt Passy erstreckt sich eine der faszinierendsten Naturlandschaften der französischen Alpen. Das Désert de Platé, mit seinen 2.480 Hektar das größte Karstplateau Europas, zieht Wanderer und Geologiebegeisterte gleichermaßen in seinen Bann. Die karge Mondlandschaft aus grauweißem Kalkstein wirkt zunächst abweisend, fast bedrohlich in ihrer Leere. Doch gerade diese karge Schönheit macht das Plateau zu einem außergewöhnlichen Ziel für all jene, die abseits der überlaufenen Pfade nach einzigartigen Naturerlebnissen suchen.
An sonnigen Tagen reflektiert der helle Kalkstein das Licht derart intensiv, dass eine Sonnenbrille zum Muss wird. Die zerklüftete Oberfläche, von Geologen als "Lapiaz" bezeichnet, gleicht mit ihren tiefen Rillen, Rinnen und scharfkantigen Erhebungen tatsächlich der Mondoberfläche – mit dem Unterschied, dass hier oben auf rund 2.000 Metern Höhe ein atemberaubendes Alpenpanorama die Kulisse bildet.
Geologische Wunderwelt
Was vor rund 40 Millionen Jahren als Meeresboden begann, wurde durch gigantische Kräfte der Kontinentalverschiebung emporgehoben und gefaltet. Die im Urgimer entstanden Kalkschichten, die einst von Meereslebewesen gebildet wurden, thronen heute hoch über dem Tal von Chamonix. Wasser hat über die Jahrtausende sein skulpturales Werk an diesem Plateau verrichtet – jeder Regentropfen löst minimal den Kalkstein und erschafft so diese bizarre Landschaft aus Furchen, Dolinen und unterirdischen Höhlensystemen.
Bemerkenswert ist dabei die ungewöhnliche Kombination aus Gletscherwirkung und chemischer Verwitterung. Nach der letzten Eiszeit haben sich regelrechte "Karrenfelder" gebildet – messerscharfe Kalksteingrate, zwischen denen sich tiefe Rinnen ziehen. Ein falscher Schritt kann hier durchaus schmerzhafte Folgen haben. Die größten Vertiefungen, sogenannte Dolinen, sind beeindruckende Trichter mit teils mehr als 50 Metern Durchmesser.
Das Regenwasser versickert auf dem Plateau nahezu vollständig in den Spalten und gelangt erst Kilometer entfernt wieder als Quelle ans Tageslicht. Diese hydrologische Besonderheit ließ das Plateau zu einem "Désert" werden – einer Wüste im wörtlichen Sinne, in der das Wasser sofort verschwindet.
Flora und Fauna – Leben in der Karstlandschaft
Wer meint, in dieser steinigen Wüste gäbe es kein Leben, wird überrascht sein. In den geschützten Spalten und Mulden hat sich eine erstaunlich anpassungsfähige Alpenflora entwickelt. Im Frühsommer, wenn der Schnee gerade geschmolzen ist, verwandelt sich das graue Plateau stellenweise in einen bunten Blütenteppich. Enzian, Silberdistel und das geschützte Edelweiß finden in den Kalksteinritzen ideale Bedingungen. Besonders faszinierend sind die winzigen Polsterpflanzen, die sich wie kleine grüne Inseln auf dem nackten Gestein behaupten.
Trotz der kargen Bedingungen kannst du mit etwas Glück Gämsen beobachten, die elegant über die messerscharfen Grate springen. Murmeltiere haben sich erstaunlicherweise ebenfalls angesiedelt – ihre Pfiffe hallen mitunter gespenstisch über das Plateau. Ein Fernglas sollte daher im Rucksack nicht fehlen. Unter den Vögeln sind besonders Alpendohlen und mit viel Glück auch Steinadler zu erspähen, die majestätisch ihre Kreise über dem Karstplateau ziehen.
Wanderwege und Routen
Das Désert de Platé erschließt sich am besten zu Fuß, und das aus gutem Grund: Die zerklüftete Oberfläche macht selbst erfahrenen Bergwanderern zu schaffen. Mehrere markierte Wege durchqueren das Plateau, doch auch diese erfordern gutes Schuhwerk und Trittsicherheit. Festes Schuhwerk ist Pflicht – die scharfkantigen Felsen sind nichts für leichte Turnschuhe.
Die klassische Route beginnt in Passy und führt über den Col de Platé auf das Hochplateau. Etwa 1.200 Höhenmeter gilt es dabei zu überwinden, eine ordentliche Tageswanderung von 6-7 Stunden. Wer's bequemer mag, kann die Seilbahn in Flaine nutzen und von dort in etwa drei Stunden das Herz des Karstplateaus erreichen. Beide Wege bieten spektakuläre Ausblicke auf die umliegenden Gipfel, darunter den majestätischen Mont Blanc, der bei klarem Wetter zum Greifen nah erscheint.
Eine besonders reizvolle Route für Geologieinteressierte ist der "Sentier des Fours" am südlichen Rand des Plateaus. Der Name "Weg der Öfen" stammt von den früheren Kalkbrennöfen, deren Überreste noch zu sehen sind. Dieser Pfad führt an einigen der spektakulärsten Karstformationen vorbei und erlaubt tiefe Einblicke in die Entstehungsgeschichte des Plateaus.
Manch ein Wanderer mag erschaudern, wenn plötzlich ein dumpfes Grollen aus der Tiefe zu hören ist – keine Sorge, es handelt sich meist nur um Wasser, das durch die unterirdischen Hohlräume rauscht. Doch es erinnert daran, dass unter unseren Füßen ein riesiges Netzwerk aus Höhlen und Gängen liegt, das bis heute nicht vollständig erforscht ist.
Übernachtungsmöglichkeiten – Zwischen Berghütte und Sternenhimmel
Mitten im Karstplateau steht das Refuge de Platé, eine rustikale Berghütte auf 2.032 Metern Höhe. Von Juni bis September bewirtschaftet, bietet sie einfache Mahlzeiten und Schlafplätze in Mehrbettzimmern oder im Matratzenlager. Eine Reservierung ist dringend zu empfehlen, besonders an Wochenenden. Die Abendstunden auf der Terrasse des Refuges, wenn die untergehende Sonne den Kalkstein in goldenes Licht taucht, gehören zu den magischen Momenten, die selbst abgebrühte Alpinisten ins Schwärmen bringen.
Wer's luxuriöser mag, findet in Flaine oder Passy Unterkünfte jeder Preisklasse. Allerdings bedeutet dies, täglich auf- und abzusteigen oder die Seilbahn zu nutzen. Übernachten im Freien ist im gesamten Gebiet prinzipiell erlaubt, doch aufgrund der felsigen Oberfläche gibt es kaum ebene Stellen für ein Zelt. Das Biwakieren – also Übernachten im Schlafsack unter freiem Himmel – hat dafür seinen ganz eigenen Reiz: Der Sternenhimmel über dem Désert de Platé zählt zu den eindrucksvollsten der Alpen, da Lichtverschmutzung hier oben praktisch nicht existiert.
Wasser ist auf dem porösen Plateau Mangelware. Wer übernachten will, sollte genügend Trinkwasser mitführen oder sich in der Hütte versorgen. Die einzige natürliche Quelle, die "Source de Fontaine Froide", liegt am westlichen Rand des Plateaus und ist nicht immer ergiebig.
Praktische Tipps für den Besuch
Die beste Zeit für einen Besuch des Désert de Platé liegt zwischen Mitte Juni und Ende September. Vorher liegt meist noch Schnee, der die Karstformationen verdeckt und die Wege gefährlich rutschig macht. Nach starken Regenfällen ist Vorsicht geboten – das Wasser sammelt sich in den Dolinen und kann diese vorübergehend in kleine Seen verwandeln. Da es keine Bäume oder sonstige Unterstände gibt, ist ein plötzliches Gewitter eine durchaus bedrohliche Situation. Die Wettervorhersage checken ist daher Pflicht.
Navigieren im Karstgebiet kann tückisch sein. Bei Nebel, der hier oben schnell aufziehen kann, verschwimmen die Konturen der Landschaft, und Orientierungspunkte fehlen weitgehend. Ein GPS-Gerät oder eine gute Wander-App auf dem Smartphone (mit vorher heruntergeladenen Karten!) kann buchstäblich ein Lebensretter sein. Die traditionelle Karte und ein Kompass gehören ebenfalls ins Gepäck – Akkus können bekanntlich leer werden.
Für Fotografen ist das Désert de Platé ein wahres Paradies. Das Spiel von Licht und Schatten auf den Karstformationen verändert sich im Laufe des Tages dramatisch. Besonders eindrucksvoll sind die frühen Morgenstunden, wenn der Nebel zwischen den Felsrinnen wabert, oder die goldene Abendstimmung, wenn die niedrig stehende Sonne lange Schatten wirft. Ein Stativ und Polarisationsfilter sollten im Fotorucksack nicht fehlen – der reflektierende Kalkstein kann die Belichtungsmessung austricksen.
Historische Spuren
Das Désert de Platé mag heute verlassen wirken, doch es trägt die Spuren menschlicher Aktivität. Hirten trieben früher ihre Schafe über das Plateau zu den saftigeren Almen am Rand. Die verfallenen Steinhütten, die vereinzelt zu finden sind, zeugen von dieser Zeit. Während des Zweiten Weltkriegs diente das unwegsame Gelände der Résistance als Versteck und Rückzugsgebiet – die Deutschen wagten sich kaum in dieses unübersichtliche Terrain.
Besonders interessant sind die Überreste des Bergbaus: Am südlichen Rand des Plateaus wurde bis ins frühe 20. Jahrhundert Kalk abgebaut und in primitiven Öfen gebrannt. Die alten Brennöfen sind teilweise noch erhalten und geben einen faszinierenden Einblick in die harte Arbeit der Bergbewohner. Dass Menschen in dieser unwirtlichen Umgebung solch schwere körperliche Arbeit verrichteten, nötigt heute noch Respekt ab.
Auch wissenschaftlich hat das Plateau Geschichte geschrieben. Seit den 1950er Jahren forschen Geologen intensiv an den Karstphänomenen von Platé. Die Erkenntnisse haben wesentlich zum Verständnis von Karstlandschaften weltweit beigetragen. Heute gilt das Plateau als Freiluftlabor für Geowissenschaftler und wird regelmäßig von Studentengruppen besucht.
Naturschutz und Besucherverhalten
Das Désert de Platé ist Teil des Naturschutzgebiets Sixt-Passy und genießt damit besonderen Schutz. Die empfindliche Alpenflora regeneriert sich auf dem kargen Boden nur sehr langsam. Bleib daher unbedingt auf den markierten Wegen und widersteht der Versuchung, Abkürzungen zu nehmen – so faszinierend die Karrenfelder auch sein mögen.
Das Sammeln von Pflanzen oder Gesteinen ist tabu. Was für den einzelnen Besucher als harmlose Mitnahme erscheint, würde bei tausenden Besuchern schnell zu erheblichen Schäden führen. Fotografieren ist natürlich erlaubt und die bessere Alternative zum Sammeln von "Souvenirs". Die Berghütte und einige strategisch aufgestellte Trockentoiletten sind die einzigen sanitären Einrichtungen – entsprechend solltest du dich darauf einstellen.
Müll mitnehmen ist selbstverständlich. Was hochgetragen wurde, muss auch wieder ins Tal. Besondere Vorsicht gilt bei Feuerzeugen oder Zigaretten – die spärliche Vegetation kann in Trockenperioden leicht Feuer fangen, und ein Brand in diesem schwer zugänglichen Gelände wäre kaum zu bekämpfen.
Anreise und Erschließung
Die bequemste Anreise zum Désert de Platé erfolgt über Flaine. Das Skigebiet ist von Genf in etwa einer Autostunde erreichbar, von Annecy sind es etwa 90 Minuten. In der Sommersaison fährt die Seilbahn "Grand Platières" täglich und bringt Besucher auf 2.480 Meter Höhe – ein perfekter Ausgangspunkt für die Erkundung des Plateaus. Ein Rundweg von der Bergstation ermöglicht auch weniger geübten Wanderern einen Eindruck von der Karstlandschaft.
Wer lieber von unten startet, kann von Passy aus den Wanderweg nehmen. Die Anfahrt nach Passy erfolgt über die Autobahn A40, Ausfahrt Passy. Von dort führt eine schmale, aber gut ausgebaute Straße zum Weiler Plaine-Joux, wo mehrere Wanderwege beginnen. Parkplätze sind vorhanden, können an Wochenenden jedoch knapp werden – früh ankommen lohnt sich.
Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Anreise etwas umständlicher, aber machbar. Von Genf oder Chamonix fahren regelmäßig Busse nach Passy. Von dort verkehrt in der Sommersaison ein Shuttle-Bus nach Plaine-Joux. Wer von Flaine aus starten möchte, muss zunächst nach Cluses und dann mit dem Bus weiter nach Flaine fahren.