Stell dir vor, du willst im Jahr 1870 auf die Rigi. Du hast drei Möglichkeiten: selbst hinaufstapfen, dich von kräftigen Trägern hochtragen lassen oder – falls du es dir leisten kannst – ein Pferd mieten. Wandern kam für die vornehme Gesellschaft jener Zeit nicht infrage. Schließlich reiste man nicht in die Schweizer Alpen, um zu schwitzen. Der Huckepack-Service florierte entsprechend, und die Einheimischen verdienten sich mit dem Transport verwöhnter Gäste eine goldene Nase.
Doch am 21. Mai 1871 änderte sich alles schlagartig. An diesem Tag fuhr die erste Bergbahn Europas von Vitznau nach Rigi Staffelhöhe – ein Ereignis, das den Alpentourismus für immer veränderte und gleichzeitig den Grundstein für eine 150 Jahre andauernde Rivalität legte.
Die Vitznau-Rigi-Bahn: Europas Zahnrad-Premiere
Niklaus Riggenbach, ein Schweizer Ingenieur mit Weitblick, wagte sich an ein Projekt, das viele für verrückt hielten. Eine Zahnradbahn sollte die steilen Hänge der Rigi bezwingen – etwas, was normale Züge mit ihren glatten Rädern niemals schaffen würden. Züge können Steigungen von maximal 4% überwinden, darüber hinaus ist ein Zahnradantrieb erforderlich. Die Rigi jedoch verlangte nach ganz anderen Lösungen.
Die Einweihung der Vitznau-Rigi-Bahn fand unter großem Publikumsandrang statt. Plötzlich konnten Touristen bequem in einem Waggon sitzen und sich dabei zusehen, wie sie sich Meter um Meter dem Himmel näherten. Was für eine Sensation! Die Fahrt vom Ufer des Vierwaldstättersees hinauf in die alpine Bergwelt dauerte etwa 30 Minuten – eine Zeitspanne, die den Gästen genug Raum gab, um über das Wunder der Technik zu staunen.
Für Vitznau war das ein Glücksfall sondergleichen. Wer es sich leisten konnte, reiste nun ins luzernische Dorf, um mit der ersten Bergbahn Europas zu fahren. Hotels schossen aus dem Boden, Restaurants erweiterten ihre Kapazitäten, und die gesamte Infrastruktur passte sich der neuen touristischen Realität an.
Der Schock in Arth: Wenn das Geschäft plötzlich wegbricht
Doch was für Vitznau ein Segen war, bedeutete für Arth eine Katastrophe. Die Ortschaft auf der Ostseite der Rigi hatte sich über Jahrzehnte als Ausgangspunkt für Rigi-Besteigungen etabliert. Träger und Pferdeführer verdienten hier ihr Geld, Gasthäuser profitierten von den durchreisenden Gästen. Mit einem Schlag war dieses Geschäft praktisch tot.
Stell dir die Gesichter der Arther vor, als sie sahen, wie ihre Gäste immer öfter nach Vitznau abwanderten. Dort wartete schließlich der Komfort der Moderne, während in Arth noch die alte Mühsal des Fußmarsches herrschte. Die Schwyzer erkannten schnell: Entweder sie ziehen nach oder sie werden abgehängt.
Schnell war für die Schwyzer klar – sie brauchten auch eine Bahn! Doch bis zur Umsetzung dieser Erkenntnis sollten noch vier ereignisreiche Jahre vergehen.
Die Arth-Rigi-Bahn: Schwyz kämpft zurück
Am 4. Juni 1875 war es endlich soweit. Die Arth-Rigi-Bahn nahm als erste, vollständig im Kanton Schwyz liegende Eisenbahnstrecke den Betrieb zwischen Arth am See und Rigi Kulm auf. Die offizielle Einweihung fand bereits am 3. Juni statt – und in Arth wurde gefeiert, als hätte man gerade die Unabhängigkeit erklärt.
Interessant dabei: Die Schienen der Arth-Rigi-Bahn waren die ersten im Kanton Schwyz. Die berühmte Gotthardlinie der SBB, die später den Bahnhof Arth-Goldau zum wichtigen Knotenpunkt machen sollte, existierte zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Schwyz wagte sich also mit der Rigi-Bahn ins Eisenbahnzeitalter.
Zunächst begann die Reise noch am Zugersee. Die Gäste stiegen dort aufs Schiff, fuhren über den See nach Arth, wechselten in die neue Zahnradbahn und ratterten über die Zwischenstation Goldau hinauf zur Rigi. Die Eröffnung der Arth-Rigi-Bahn 1875 vereinfachte den Zugang und bot in Kombination mit der Schifffahrt ein beliebtes Reiseerlebnis.
Konkurrenz belebt das Geschäft – oder etwa nicht?
Theoretisch sollte die Rechnung aufgehen: Zwei Bahnen bedeuten mehr Kapazität, mehr Gäste, mehr Umsatz für alle. Praktisch sah es anders aus. Der Plan, sich mit einer eigenen Bahn einen Teil des Rigi-Tourismuskuchens zu sichern, funktionierte – wenn auch nur bedingt. Die Arth-Rigi-Bahn hatte stets schlechtere Frequenzen als die Konkurrentin aus Vitznau.
Das lag nicht nur an der Streckenführung. Vitznau hatte einen entscheidenden Vorteil: Die Bahn startete direkt am Ufer des Vierwaldstättersees und bot damit eine traumhafte Kombination aus Schiff- und Bergbahnfahrt. Die Route über Arth wirkte dagegen etwas umständlicher, auch wenn sie durchaus ihre Reize hatte.
Trotzdem schuf die Arth-Rigi-Bahn Arbeitsplätze – anfangs sogar 57 Festanstellungen. Doch aus Kostengründen musste der Personalbestand bald wieder reduziert werden. Die Konkurrenz zwischen den beiden Bahnen war von Anfang an ungleich.
Parallele Gleise zum Gipfel: Sinnbild des Wettkampfs
Besonders symbolträchtig war die Situation auf dem letzten Streckenabschnitt hinauf zu Rigi Kulm. Dort fuhren die beiden Bahnen tatsächlich auf parallel verlaufenden Gleisen – als wollten sie sich gegenseitig beweisen, wer der bessere Bergbahn-Betreiber ist. Zwei Schienenstränge, zwei Unternehmen, ein Ziel. Verrückter kann Konkurrenz kaum werden.
Die Unterscheidung war übrigens einfach: Aufgrund der blauen (Arth) und roten (Vitznau) Bahnkompositionen war gleich ersichtlich, welchem Unternehmen der jeweilige Zug gehörte. Rot gegen Blau, Luzern gegen Schwyz – der Kampf um die Rigi hatte auch eine emotionale Komponente.
Technische Meilensteine trotz Rivalität
Obwohl die Konkurrenz manchmal erbittert war, trieb sie auch Innovationen voran. Ab 1907 wurde die Arth-Rigi-Bahn die erste elektrisch betriebene Normalspur-Zahnradbahn der Welt. Ein Meilenstein, der zeigt: Die Schwyzer wollten nicht nur mithalten, sondern Pioniere sein.
Später folgten weitere technische Neuerungen. Die Pendelzüge von 1949 galten als modernste ihrer Zeit und bewiesen, dass sich die Investitionen in die Zukunft auszahlten. Beide Bahnen entwickelten sich kontinuierlich weiter, auch wenn sie dabei stets schielen mussten, was die Konkurrenz gerade trieb.
Das Ende der Rivalität: Fusion als Lösung
Über 100 Jahre lang hielt die Konkurrenz zwischen den beiden Rigi-Bahnen an. Doch wirtschaftlich machte die Rivalität immer weniger Sinn. 1992 entstanden die heutigen Rigi-Bahnen durch die Fusion der Arth-Rigi-Bahn (ARB) in Arth und der Rigibahn-Gesellschaft in Vitznau. Der operative Sitz befindet sich seither in Vitznau, aber beide Strecken werden gemeinsam betrieben.
Bereits 1990 wurde eine entscheidende Gleisverbindung auf Rigi Staffel montiert, die es beiden Bahnen ermöglichte, auf dem gleichen Schienennetz zu verkehren. Die parallelen Gleise zum Gipfel gehörten damit der Vergangenheit an – zumindest technisch gesehen.
Gotthard-Effekt: Wie eine andere Bahn alles veränderte
Interessant ist, wie sich die Verkehrsströme durch den Bau der Gotthardbahn veränderten. Nachdem die Gotthardbahn 1897 fertiggestellt worden war, verlagerte sich der Verkehr jedoch nach Goldau, und die Zugersee-Route verlor an Bedeutung. Plötzlich war nicht mehr Arth am See der Ausgangspunkt, sondern Arth-Goldau wurde zum neuen Drehkreuz.
Diese Verschiebung zeigt, wie schnell sich touristische Gewohnheiten ändern können. Was heute als etablierte Route gilt, kann morgen schon Geschichte sein. Die Rigi-Bahnen mussten sich immer wieder neu erfinden und an veränderte Bedingungen anpassen.
Heute: Ein Berg, ein Unternehmen, viele Geschichten
Heute fahren die Züge der Rigi-Bahnen friedlich nebeneinander her. Touristen können je nach Anreise zwischen den verschiedenen Strecken wählen, ohne sich Gedanken über historische Rivalitäten machen zu müssen. Die roten und blauen Züge sind längst einheitlich lackiert, und die Fahrpläne sind aufeinander abgestimmt.
Dennoch lebt die Geschichte fort. Wer aufmerksam durch die Stationen wandelt, findet noch immer Spuren der alten Konkurrenz. Historische Fotos zeigen die parallelen Gleise, alte Werbeplakate werben für die jeweiligen Strecken, und die Einheimischen erzählen gerne von der Zeit, als zwei Bahnen um jeden Fahrgast kämpften.
Die Rigi bleibt auch heute noch ein Bergbahn-Paradies. Zahnradbahnen und Luftseilbahnen erschließen den Berg von verschiedenen Seiten und machen ihn zu einem einzigartigen Erlebnis für Technik-Enthusiasten und Naturliebhaber gleichermaßen. Was als Pionierleistung begann, ist heute ein perfekt orchestriertes Transportsystem – mit einer Geschichte, die zeigt, wie aus Konkurrenz manchmal das Beste entstehen kann.
Spannend bleibt die Frage: Wäre die Rigi ohne die Rivalität der beiden Bahnen zu dem geworden, was sie heute ist? Vermutlich nicht. Denn Konkurrenz spornt an, treibt Innovationen voran und sorgt dafür, dass niemals Stillstand herrscht. Auch wenn die Schwyzer und Luzerner heute an einem Strang ziehen – ihre historische Rivalität hat die Rigi zu dem gemacht, was sie heute ist: zur Königin der Berge mit einer königlichen Verkehrserschließung.