Schweiz

Graubündens wilder Süden: Naturpark Beverin zwischen Steinbock und Schlucht

Düstere Schluchten, die selbst Nietzsche ins Grübeln brachten. Steinböcke, die majestätisch über 3000-Meter-Gipfel wachen. Und mittendrin ein Käse, der Vizeweltmeister wurde - der Naturpark Beverin ist Graubündens Antwort auf alle, die glauben, die Schweiz schon zu kennen.

Schweiz  |  Natur & Aktivitäten
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Zwischenablage

Der Steinbock thront nicht nur im Wappen Graubündens - im Naturpark Beverin ist er zu Hause. Auf 370 Quadratkilometern erstreckt sich diese Bergwelt südlich von Chur, wo der Piz Beverin dem ganzen Gebiet seinen Namen leiht. Zwölf Gemeinden haben sich zusammengetan, um aus dieser Region etwas Besonderes zu machen. Das Resultat kann sich sehen lassen: Ein Naturpark, der von der spektakulären Viamala-Schlucht bis zu den höchsten Gipfeln alles bietet, was das Herz von Naturliebhabern höher schlagen lässt.

Wer hierher kommt, betritt eine Welt der Kontraste. Da ist einerseits die liebliche Kulturlandschaft rund um Andeer, wo Kühe auf saftigen Alpenwiesen grasen und ihre Milch zu preisgekröntem Käse verarbeitet wird. Andererseits öffnet sich zwischen Thusis und Zillis eine Schlucht, die schon die Römer das Fürchten lehrte und der sie den treffenden Namen "Via Mala" - schlechter Weg - gaben.

Martin "Floh" Bienerth und sein Vizeweltmeister-Käse

In Andeer, wo die meisten Autos nur durchbrausen, lebt ein Mann, der zeigt, was aus der Region herauszuholen ist. Martin Bienerth nennt sich selbst "Floh" - ein Name, der zu seiner sprühenden Energie passt. Der Deutsche kam vor Jahren hierher und macht seitdem mit seiner Frau Maria Meier Käse, der international Furore macht. 2010 wurde ihr "Andeerer Traum" Vizeweltmeister in der Kategorie geschmierter Hartkäse - nur ein Gruyère aus La Brévine war noch besser.

"Milch ist nicht gleich Milch", erklärt Bienerth seine Philosophie. Die Kühe finden ihr Futter an den südöstlichen Flanken des Piz Beverin, wo Gräser und Kräuter in der Höhenluft besonders nährstoffreich gedeihen. Bergmilch sei eben wertvoller als Talmilch - eine Erkenntnis, die sich im Geschmack niederschlägt. Dass gleich zwei Schweizer Käse die Weltspitze anführten, freut den Wahlbündner besonders. Schließlich stammen beide aus einem Land, das die Alpwirtschaft noch ernst nimmt und seinen Kühen regelmäßigen Weidegang gönnt.

Die Viamala - Schlucht der Extreme

Keine andere Landschaft im Naturpark Beverin polarisiert so sehr wie die Viamala-Schlucht. Friedrich Nietzsche empfand ihre "düstere Großartigkeit" als Widerschein seines eigenen Wesens - eine Aussage, die ahnen lässt, welche Wirkung dieser Ort auf Menschen haben kann. Theodor Fontane war 1875 schlichtweg überwältigt: "Ich hätte niemals geglaubt, nach allem was ich gesehen habe, dass ich noch so mächtig von Dingen dieser Art bewegt werden könnte."

Die Schlucht zieht seit jeher Besucher in ihren Bann und lässt sie gleichzeitig erschaudern. Zwischen Thusis und Zillis öffnet sich eine Welt, die wirkt wie aus einem anderen Jahrhundert. Dichte Wälder, überhängende Felsen und das tosende Wasser des jungen Rheins schaffen eine Atmosphäre, die selbst hartgesottene Wanderer ins Grübeln bringt. Nicht umsonst ranken sich düstere Geschichten um diesen Ort.

Eine der schaurigsten erzählt von einem Pfarrer, der an Weihnachten 1705 einem Bauernmädchen die Ehe versprach, sie aber auf der Brücke durch die Schlucht erstach und in den Abgrund warf. Ob wahr oder erfunden - solche Geschichten gehören zur Viamala wie die steilen Felswände. Auch Ritter Kuno soll sich einst von seiner Burg Hohen Rätien in die Tiefe gestürzt haben, als die Bauern seine Festung stürmten.

Geschichtlich verbürgt ist dagegen der Aufstieg von Thusis. Die Bewohner des 1156 erstmals erwähnten Ortes erhielten das Recht, Waren alleine durch die Schlucht zu transportieren - ein über vier Jahrhunderte einträgliches Geschäft. Thusis blühte auf, es gab zahlreiche Geschäfte und Wirtshäuser. Allerdings brannte der Ort in seiner Geschichte 18-mal ab - gläubige Zeitgenossen sahen darin Gottes Strafe für die blühende Sünde.

Wandern durch die Schlucht des Grauens

Heute ist die Viamala längst kein gefürchteter Zwangsweg mehr, sondern ein Wanderhighlight. Die attraktivste Route führt von Thusis nach Zillis und folgt dabei der historischen Via Spluga. Am Bahnhof von Thusis weisen grüne viaSpluga-Signete den Weg nach Sils, von dort geht es via Burg Ehrenfels und Hohen Rätien nach St. Albin.

Hier beginnt der eigentliche, sieben Kilometer lange Schluchtweg. Der schmale, aber gut unterhaltene Pfad schlängelt sich ins Innere der Schlucht. Spektakulärer Höhepunkt ist der Traversinersteg - eine Hängebrückenkonstruktion, die über das rauschende Wasser führt. Beim Kiosk im Zentrum der Schlucht kann man gegen Eintritt noch tiefer absteigen und die ganze Dramatik der Viamala erleben.

Nach dem Kiosk folgt der Wanderweg kurz der Straße, bevor er erneut absteigt und dem Hinterrhein folgt. Eine zweite Hängebrücke führt wieder in wirtlicheres Gelände, danach wandert man durch märchenhaften Wald nach Zillis. Die komplette Tour dauert gut fünf Stunden, lässt sich aber auch teilen - beim Kiosk hält das Postauto.

Piz Beverin und das Reich der Steinböcke

Fast 3000 Meter hoch ragt der Piz Beverin über die Region, und hier zeigt sich die Wildheit der Natur in ihrer reinsten Form. Für diese Unbändigkeit steht auch der Steinbock - das Wappentier des Parks. In Wergenstein am Schamserberg wurde ihm ein kleines Museum gewidmet, das gleichzeitig als Parkzentrum dient.

Wildhüter Hans Gartmann freut sich über diese Einrichtung, sieht aber auch die Schattenseiten des wachsenden Tourismus. "Die Natur ist der Ast, auf dem wir sitzen", sagt er und zitiert eine beunruhigende Statistik: Noch vor 50 Jahren besuchten während des Winters etwa 50 bis 100 Touristen in höchstens vier Gruppen den Piz Beverin. Heute sind es 1000 Personen in wesentlich kleineren Gruppen - mit fatalen Folgen für die Wildtiere.

"Dieser Stress ist lebensbedrohlich", erklärt Gartmann. In der kalten Jahreszeit haben die Tiere einen reduzierten Stoffwechsel und sind in einer Art Winterschlaf. Tägliche Störungen schwächen ihre Abwehrkräfte erheblich. Problematisch sind nicht nur Skitourengeher, sondern auch Schneeschuhwanderer, die glauben, einem naturnahen Hobby zu frönen.

Im Sommer werden überall in den Alpen Mountainbiker zum Problem, die mit ihren spezialisierten Downhill-Geräten mit hohem Tempo durchs Gelände brausen. Sie wirken nicht nur auf Wanderer, sondern auch auf das Wild bedrohlich. Gartmann appelliert deshalb an alle Parkbesucher: auf den Wegen bleiben, Wildtiere mit Abstand beobachten und äsende Tiere großräumig umgehen.

Die Renaissance des Alpenkönigs

Der Steinbock selbst hat eine bewegte Geschichte hinter sich. Bereits 1550 waren die Tiere fast ausgerottet - Überbevölkerung, Armut und die Verbreitung von Schusswaffen hatten den gesamten Wildbestand dezimiert. Die letzten Steinböcke lebten Ende des 19. Jahrhunderts im Grenzgebiet zwischen dem Aostatal und dem Piemont. König Vittorio Emanuele II. verhinderte mit strikten Schutzmaßnahmen die völlige Ausrottung.

In der Schweiz begann die Wiederansiedlung illegal. Reinblütige Tiere gab es nur im Gebiet des Gran Paradiso in Italien, doch der König wollte keine hergeben. Also bezahlten Interessierte zwischen 800 und 1200 Franken pro Kitz, das Wilderer ihren Müttern entwendet hatten - ein Vermögen für die damalige Zeit.

Der Durchbruch gelang im Tierpark Peter und Paul in St. Gallen, der 1882 eigens "zur Gründung einer Kolonie echten Steinwilds" gegründet wurde. 1920 wurden die ersten Tiere im Nationalpark und im Gebiet Albris ausgesetzt - beide Kolonien entwickelten sich positiv. In der Region des heutigen Naturparks Beverin begann die Wiederansiedlung 1954. Heute schätzt Gartmann den Bestand auf 300 bis 400 Tiere.

Zillis und sein bunter Decken-Comic

Wer im Naturpark Beverin unterwegs ist, darf einen Besuch der Kirche St. Martin in Zillis nicht versäumen. Das unscheinbare Gotteshaus birgt einen wahren Schatz: die einzige nahezu vollständig erhaltene romanische Bilderdecke der Welt. 153 quadratische Bildtafeln von je 90 Zentimeter Seitenlänge erzählen biblische Geschichten in einer Weise, die an ein frühzeitliches Comic erinnert.

Die Tafeln wurden Anfang des 12. Jahrhunderts geschaffen, als die Kirche neu aufgebaut wurde. Sie bestehen meist aus Tannenholz, wurden mit einer dünnen Gipsschicht grundiert, aufrecht bemalt und erst dann in die Decke eingesetzt. Der unbekannte Malermeister stammte wahrscheinlich aus Graubünden und verstand es, mit drastischen Darstellungen zu beeindrucken.

Fabelwesen symbolisieren das Böse, die Hinrichtung Johannes des Täufers wird ebenso drastisch dargestellt wie andere Szenen aus dem Alten und Neuen Testament. Die letzte Bilderreihe berichtet aus dem Leben des heiligen Martin. Besucher können die bunte Bilderwelt bequem mit Spiegeln betrachten, ohne sich den Hals zu verrenken - eine durchaus praktische Lösung für ein 900 Jahre altes Kunstwerk.

Steinzeitliche Kultstätte bei Sils

1965 machten Arbeiter beim Bau einer Hochspannungsleitung eine aufsehenerregende Entdeckung: etwa 200 Felszeichnungen bei Sils im Domleschg, nur eine Fußstunde von Thusis entfernt. Die Ritzungen liegen auf einer Anhöhe östlich von Sils, am Rande eines mehrere hundert Meter tiefen Abgrundes - ein Ort, der schon in prähistorischer Zeit kultische Bedeutung gehabt haben könnte.

Der Begriff "Carschen" im Ortsnamen bedeutet auf Rätoromanisch "Aufgehender Mond" - ein weiterer Hinweis auf die besondere Bedeutung dieses Platzes. Die konzentrischen Ringmuster und Tierdarstellungen stammen vermutlich aus verschiedenen Zeiten, die ältesten dürften aus der Bronzezeit um 1500 vor Christus stammen. Ein markierter Wanderweg führt zu den gut erhaltenen Felsritzungen.

Safiental - Tal der Auswanderer

Von Wergenstein aus führt ein Weg über den 2600 Meter hohen Carnusapass zwischen Piz Beverin und Wisshorn ins Safiental. Ende des 12. Jahrhunderts wanderten die ersten Siedler aus dem Oberwallis in dieses abgelegene Tal ein. Im 17. Jahrhundert traten viele Burschen in Söldnerdienste, ab 1850 wanderte ein Teil der Talschaft nach Neuseeland aus.

Heute leben in den vier Talgemeinden Safien, Tenna, Valendas und Versam noch gut 1000 Einwohner. Der Park bietet ihnen eine Chance, die weitere Abwanderung zu stoppen und wenigstens die Schulen zu retten. Das Tal hat einiges zu bieten, etwa das unter Mitwirkung von Pro Natura Graubünden aufgebaute Naturwaldreservat Aclatobel.

Kristallsucher und Käseproduzenten

Der Park lebt von Menschen wie Wolfgang Josche, der als Strahler arbeitet, Exkursionen zu Kristallen führt und seine Funde zu Schmuck verarbeitet. Der filigrane Schmuck in seinem kleinen Laden ist eine schöne Hommage an die Reichtümer der Gegend. Andere setzen auf kulinarische Spezialitäten: Viele Käse- und Fleischproduzenten haben sich für umweltverträgliche Produktionsweise entschieden und profitieren vom Parklabel.

Martin Bienerth sieht im Park eine Investition in die Zukunft: "Er ist wie ein Haus, das wir bauen und beziehen können, wenn es notwendig wird. Jetzt wird die Landwirtschaft vom Bund noch unterstützt. Aber es wird sich ändern. Wir werden stärker auf eigenen Füßen stehen müssen. Plötzlich wird so ein Park überlebenswichtig."

Praktische Informationen

Das Safiental erreicht man mit öffentlichen Verkehrsmitteln über Chur nach Versam und von dort mit dem Postauto nach Safien. Nach Andeer gelangt man über Chur nach Thusis und von dort mit dem Postauto weiter. Von Andeer fahren regelmäßig Postautos nach Wergenstein, wo sich das Parkzentrum befindet.

Die Geschäftsstelle des Naturparks Beverin befindet sich im Center da Capricorns in Wergenstein. Auf der Homepage finden sich vielseitige Informationen über den Park, Wanderrouten und Veranstaltungen. Wer den Park besucht, sollte die Ruhe der Natur respektieren und auf den markierten Wegen bleiben - nur so bleibt dieses einzigartige Stück Graubünden auch für künftige Generationen erhalten.

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