Wer den San Bernardino Pass nur als schnelle Verbindung zwischen Nord und Süd kennt, verpasst eine Menge. Klar, die meisten Autofahrer verschwinden heute im 6,6 Kilometer langen Tunnel und bekommen von der eigentlichen Passhöhe auf 2065 Metern gar nichts mit. Schade eigentlich, denn dort oben spielt sich seit Jahrhunderten eine ganz andere Geschichte ab.
Der Pass trennt das Misox im Süden vom Rheinwald im Norden – zwei Täler, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Während unten im Misox bereits mediterrane Luft weht und die Kastanien blühen, herrscht auf der Passhöhe oft noch Schneematsch, wenn anderswo längst der Frühling eingezogen ist. Diese krassen Unterschiede machen den San Bernardino zu einem faszinierenden Mikrokosmos.
Interessant dabei: Der Pass heißt zwar San Bernardino, liegt aber nicht in der gleichnamigen Gemeinde. Die befindet sich nämlich weiter südlich im Tal. Typisch für die Verwirrung, die in diesen Bergen oft herrscht. Ortskundige schmunzeln gerne über die ratlosen Gesichter der Touristen, die nach "San Bernardino" fragen und dann nicht genau wissen, was sie eigentlich meinen.
Geschichte zwischen Säumern und Sprengmeistern
Schon die Römer kannten diese Route, auch wenn sie damals noch deutlich beschwerlicher war. Richtig in Fahrt kam der Pass aber erst im Mittelalter, als Säumer ihre schwer beladenen Maultiere über die steilen Pfade trieben. Das war ein Knochenjob – bei Wind und Wetter, im Sommer wie im Winter. Manche Geschichten erzählen von Säumern, die tagelang im Schnee festsaßen und nur dank des warmen Atems ihrer Tiere überlebten.
Die erste richtige Straße entstand dann 1823, und was für eine Straße das war! 34 Kehren schlängeln sich heute noch auf der Südseite den Berg hinauf – ein Spektakel für jeden, der gerne kurvt. Auf der Nordseite geht's weniger dramatisch zu, dafür umso imposanter. Hier dominieren weite Bergwiesen und der Blick auf die schneebedeckten Gipfel des Rheinwalds.
Den großen Wandel brachte dann 1967 der Tunnelbau. Plötzlich war die alte Passstraße nicht mehr die Hauptschlagader, sondern wurde zur ruhigen Nebenroute. Für die einen ein Verlust, für die anderen ein Gewinn. Heute schätzen vor allem Motorradfahrer, Rennradler und Wanderer diese Ruhe.
Natur pur auf 2000 Metern
Rund um die Passhöhe breitet sich eine typische Alpenlandschaft aus – karg, aber keineswegs monoton. Im Frühsommer leuchten die Bergwiesen in allen erdenklichen Grüntönen, durchsetzt von bunten Tupfern der Alpenblumen. Enzian, Alpenrosen und Silberdisteln geben sich hier ein Stelldichein.
Besonders eindrucksvoll: die zahlreichen kleinen Bergseen, die wie Spiegel in der Landschaft liegen. Der Lago di Moesola ist der bekannteste, aber längst nicht der einzige. An warmen Sommertagen lädt das Wasser sogar zum Baden ein – wer's mag. Die Wassertemperatur klettert selten über 15 Grad, aber nach einer langen Wanderung kann das durchaus erfrischend sein.
Die Tierwelt zeigt sich eher scheu, aber aufmerksame Beobachter entdecken Murmeltiere, die zwischen den Felsbrocken herumhuschen, oder Steinböcke, die majestätisch an den Steilhängen klettern. Geduld braucht man allerdings schon – und ein Fernglas schadet auch nicht.
Wandern zwischen Himmel und Tal
Wanderer finden hier oben ein wahres Paradies vor. Der Vier-Quellen-Weg ist sicher der prominenteste Trail – er führt zu den Quellen von Rhein, Reuss, Ticino und Inn. Eine symbolträchtige Tour, die allerdings Kondition verlangt. Wer's gemütlicher mag, spaziert einfach rund um den Lago di Moesola oder erkundet die alten Säumerpfade.
Besonders reizvoll: die Tour zur Zapportscharte. Der Weg führt durch eine wilde, fast unwirtliche Landschaft aus Geröll und Felsen. Oben angekommen, eröffnet sich ein Panorama, das seinesgleichen sucht. Bei klarem Wetter reicht der Blick bis zu den Berner Alpen im Norden und den lombardischen Gipfeln im Süden.
Vorsicht ist allerdings geboten – das Wetter kann hier oben schnell umschlagen. Morgendlicher Sonnenschein verwandelt sich nicht selten in nachmittägliche Gewitter. Deshalb gehören Regenjacke und warme Kleidung auch im Hochsommer ins Gepäck.
Kulinarische Überraschungen auf der Passhöhe
Hungrige Wanderer und Autofahrer finden im Ospizio San Bernardino eine solide Küche vor. Das traditionsreiche Gasthaus thront direkt auf der Passhöhe und serviert seit Generationen deftige Bergkost. Die Polenta mit Wildragout ist legendär, aber auch die hausgemachten Teigwaren können sich sehen lassen.
Spannend dabei: Hier treffen kulinarische Welten aufeinander. Südlich des Passes dominiert die italienische Küche mit Risotto, Pasta und Grappa. Nördlich davon sind es eher Bündner Spezialitäten wie Capuns oder Pizokel. Im Ospizio gibt's beides – je nach Lust und Laune des Küchenteams.
Ein Geheimtipp für Feinschmecker ist übrigens der hausgeräucherte Speck. Den bekommt man nur hier oben, und er schmeckt nach Bergen, nach würziger Alpenluft und nach der Geduld alter Handwerkskunst.
Motorsport-Mekka und Kurvenparadies
Motorradfahrer pilgern von weit her an den San Bernardino. 34 Kehren auf der Südseite – das lässt jedes Biker-Herz höher schlagen. Die Strecke gilt als eine der schönsten Passstraßen der Schweiz, technisch anspruchsvoll, aber nicht übertrieben gefährlich.
Auch Rennradfahrer schätzen die Herausforderung. Der Anstieg von Bellinzona her ist ein echter Brocken – 43 Kilometer mit über 1500 Höhenmetern. Das zieht sich ganz schön, belohnt aber mit grandiosen Ausblicken und dem befriedigenden Gefühl, etwas Ordentliches geschafft zu haben.
An Wochenenden kann's allerdings recht lebhaft werden. Dann teilen sich Motorräder, Rennräder und Autos die schmale Straße – eine Situation, die gegenseitige Rücksicht erfordert. Die meisten Verkehrsteilnehmer benehmen sich vorbildlich, aber schwarze Schafe gibt's überall.
Winter am Pass – eine andere Welt
Im Winter verwandelt sich der San Bernardino in eine völlig andere Welt. Die Passstraße ist dann meist gesperrt, der Verkehr verschwindet im Tunnel. Oben herrscht monatelang tiefster Winter mit meterhohem Schnee und eisigen Temperaturen.
Für Skitourengeher und Schneeschuhwanderer beginnt dann die schönste Zeit. Die Stille ist überwältigend – nur das Knirschen des Schnees unter den Füßen und gelegentlich das Rauschen einer Lawine in der Ferne durchbrechen die Ruhe. Bei klaren Nächten funkelt der Sternenhimmel so intensiv, wie man ihn im Tal nie zu sehen bekommt.
Das Ospizio bleibt auch im Winter geöffnet, allerdings mit eingeschränktem Service. Wer hier oben übernachtet, erlebt den Pass von seiner ursprünglichsten Seite – abgeschnitten von der Welt, zurückgeworfen auf das Wesentliche.
Praktische Tipps für die Anreise
Mit dem Auto erreichst du den San Bernardino Pass über die A13 von Norden oder die A2 von Süden. Beide Autobahnen führen durch den Tunnel, für die Passstraße musst du vorher abfahren. Von Norden nimmst du die Ausfahrt "San Bernardino", von Süden die Ausfahrt "Bellinzona Sud" und fährst dann über das Misox hoch.
Öffentlich ist der Pass etwas komplizierter zu erreichen. Die Postautos fahren von Chur über Thusis nach San Bernardino Dorf, von dort geht's dann mit einem anderen Bus zur Passhöhe. Das dauert seine Zeit, aber dafür kannst du die Landschaft entspannt genießen.
Wichtig: Die Passstraße ist normalerweise von Mai bis Oktober geöffnet, je nach Schneelage kann sich das aber verschieben. Aktuelle Informationen gibt's beim TCS oder online bei den Schweizer Passstraßen-Services.
Übernachten kannst du im Ospizio San Bernardino direkt auf der Passhöhe oder in einem der Hotels im Tal. Die Auswahl ist nicht riesig, aber durchaus ordentlich. Reservieren solltest du in der Hochsaison trotzdem, vor allem an Wochenenden kann's eng werden.