Der Sentiero Panoramico – manchmal auch Via Panoramica genannt – ist nicht ohne Grund die berühmteste Wanderung im Bergell. Wer einmal diese Steinplatten unter den Füßen gespürt hat, die wie eine Himmelstreppe direkt auf den imposanten Piz Badile zulaufen, versteht sofort, warum dieser Höhenweg Wanderer aus aller Welt magisch anzieht. Giovanni Segantini, der große Alpenmaler, nannte Soglio einst die "Schwelle zum Paradies" – und genau dorthin führt dieser klassische Bergweg.
Aber Vorsicht: Das ist kein gemütlicher Sonntagsspaziergang! Zwischen Casaccia und Soglio liegen 14 Kilometer, die es in sich haben. Der Weg führt über Wurzeln und Steine, mal bergauf, mal bergab, und selten wirklich eben dahin. In Soglio sind schon manche Wanderer völlig erschöpft angekommen, weil sie die Strecke unterschätzt hatten.
Auf einen Blick:
Strecke: ca. 14 km | Zeit: 4,5 Stunden | Schwierigkeit: T2 | Höhendifferenz: ↑340m, ↓700m | Start: Casaccia | Ziel: Soglio
Los geht's in Casaccia
An der Postauto-Haltestelle in Casaccia beginnt das Abenteuer. Zunächst folgt der Weg noch dem Lauf der Maira – hier ist der Sentiero Panoramico identisch mit der Via Bregaglia. Die ersten Kilometer sind tatsächlich noch recht gemütlich: breit angelegte Wege durch Wiesen, vorbei am Stausee Löbbia, teilweise auf Wirtschaftswegen. Man könnte fast meinen, das wird ein entspannter Tag.
Diese Illusion hält bis zur Verzweigung bei Nasciarina. Hier gabelt sich der Weg, und wer dem Sentiero Panoramico folgt, muss sich von der Gemütlichkeit verabschieden.
Roticcio: Wo der Ernst beginnt
Das kleine Dorf Roticcio bietet einen imposanten Ausblick auf die Albigna-Staumauer. Verpflegung gibt's hier keine – abgesehen vom Dorfbrunnen, wenn man Durst hat. Dafür wartet am Dorfende ein kleiner, aber "happiger" Anstieg, wie es in Wanderführern so schön heißt. Übersetzt bedeutet das: Hier wird's anstrengend.
Doch die Mühe lohnt sich bereits nach wenigen Metern. Sobald man sich auf die Bergwanderwege eingestellt hat, öffnen sich grandiose Ausblicke über Vicosoprano. Hübsch gelegene Bänke laden zum Verschnaufen ein – und das sollte man auch tun, denn vor einem liegen noch etliche Höhenmeter.
Alp Durbegia: Oase der Ruhe
Kurz vor der Alp Durbegia öffnet sich wieder ein Wirtschaftsweg – das erste Zeichen dafür, dass man bald eine verdiente Pause einlegen kann. Die Alp Durbegia ist in den Sommermonaten fast täglich bewirtschaftet und bietet Getränke, einfache kalte Speisen, Kuchen und einen kräftigen Espresso. Wichtig zu wissen: Hier gibt's auch das einzige WC auf der gesamten Strecke.
Selbst wenn die Alp geschlossen ist, lohnt sich die Pause. Man hat nämlich bereits mehr als die Hälfte der Strecke geschafft, und die Aussicht auf die umliegenden Berge ist schlichtweg atemberaubend. Hier oben spürt man diese typische Bergeller Mischung aus italienischem Flair und Schweizer Urchigkeit.
Durch die Tobel zum höchsten Punkt
Gestärkt geht es weiter durch zahlreiche Tobel: Valèr, Fopeta, Peista – Namen, die so melodisch klingen wie ein italienisches Gedicht. Der Weg schlängelt sich sanft bergan, bis man bei 1.475 Metern den höchsten Punkt der Wanderung erreicht. Von hier aus geht's nur noch bergab – theoretisch. Praktisch sind das immer noch 400 Meter Abstieg, die durchaus anspruchsvoll sein können.
Glücklicherweise ist der Weg gut ausgebaut: Steintreppen und Serpentinen helfen dabei, sicher ins Tal zu gelangen. Bei Parlongh stehen viele alte Hütten, und eine Abzweigung führt hinunter ins Tal nach Stampa. Wer genug hat, kann hier abkürzen – aber das wäre schade, denn das Beste kommt erst noch.
Die berühmte "Stairway to Heaven"
Oberhalb von Promontogno wartet einer der spektakulärsten Ausblicke der gesamten Wanderung. Der Blick schweift über das Bergeller Tal zu den phänomenalen Spitzen von Piz Badile und Piz Cengalo. Der Weg scheint tatsächlich in den Himmel zu führen – daher auch der Spitzname "Stairway to Heaven".
Besonders eindrucksvoll sind die Steinplatten, auf denen man hier wandelt. Diese wurden einst mühsam zugeschnitten und teilweise von unten hochgetragen – so wichtig waren befestigte Wege für die Alpwirtschaft. Informationstafeln an den Aussichtspunkten erzählen vom Verfall dieser Kulturlandschaft und der Zunahme des Waldes. Eine wichtige Diskussion: Soll man weiter verwildern lassen oder die Kulturlandschaft pflegen?
Ankunft in Soglio
Soglio sieht man zunächst nicht, man riecht es – am charakteristischen Duft des Ziegenstalls. Erst spät lichtet sich der Wald und gibt den Blick auf den Kirchturm und die umliegenden Häuser frei. Dann aber wird klar, warum Segantini von der "Schwelle zum Paradies" sprach.
Das Bergdorf auf rund 1.000 Metern Höhe verzaubert mit engen Gässchen und hübschen Häusern. Italienisches Flair und Schweizer Urchigkeit verschmelzen hier zur Perfektion. Wer mag, kann im Palazzo Salis, in der Stüa Grande oder im Hotel La Soglina einkehren. Oder einfach noch ein wenig durch die Gassen wandeln, bevor der Bus zurück ins Tal fährt.
Varianten und Verlängerungen
Wer den Sentiero Panoramico abkürzen möchte, kann bei der Bushaltestelle Vicosoprano Nasciarina einsteigen (spart 50 Minuten) oder von Vicosoprano Plaza den Hang hinauf nach Durbegia wandern (spart 80 Minuten). Beide Varianten sind legitim – vor allem, wenn die Zeit knapp ist oder die Kondition nicht für die gesamte Strecke reicht.
Ambitionierte Wanderer können den Weg auch verlängern: Von Soglio weiter nach Dasciun, durch den Lovero-Tobel nach Somasascio und Montesetto bis nach Savogno. Aber Achtung: Diese Strecke ist deutlich anspruchsvoller (T3) und erfordert Trittsicherheit sowie Schwindelfreiheit. Aktuell ist die Strecke im Val Zernone nach Foina und Frescarola gesperrt.
Praktische Hinweise
Der Sentiero Panoramico ist kein Wanderweg für Turnschuhe. Richtige Wanderschuhe sind Pflicht, denn der Weg führt über Naturwege mit Wurzelstöcken und Steinen. Eine Grundfitness sollte vorhanden sein – die Höhendifferenzen sind nicht ohne.
Besonders schön: Man ist oft allein unterwegs. Während andere Wanderwege im Bergell teilweise überlaufen sind, trifft man auf dem Sentiero Panoramico nur wenige andere Wanderer. Das verstärkt das Gefühl, in unberührter Natur unterwegs zu sein.
Die Anreise erfolgt mit dem Postauto von St. Moritz oder Chiavenna nach Casaccia. Von Soglio fahren ebenfalls Postautos zurück – allerdings sollte man die Fahrpläne im Voraus checken, denn die Verbindungen sind nicht allzu häufig.