Wer am Ende des Simmentals angelangt ist, steht vor einem der eindrucksvollsten Naturschauspiele der Berner Alpen. Hier, wo das Tal in einer mächtigen Kalksteinwand endet, entspringt aus sieben Hauptquellen die Simme – jener Fluss, der dem ganzen Tal seinen Namen gegeben hat. Die «Sibe Brünne», wie die Einheimischen sagen, sind mehr als nur der Anfang eines Gewässers. Sie markieren den Ursprung einer ganzen Region.
Auf der Alp Rezliberg, rund fünf Kilometer hinter dem Dorf Lenk, tritt das Wasser weissschäumend aus Gesteinsspalten hervor. Ein 30 Meter breiter Fächer aus kristallklarem Bergwasser quillt hier empor – gespiesen von Schmelzwasser des Gletschers zwischen Wildstrubel und Rohrbachstein. Im Hochsommer können es bis zu 2800 Liter pro Sekunde werden, die hier aus dem Berg sprudeln. Das ist ordentlich was – man hört das Rauschen schon von weitem.
Interessant ist die Namensgeschichte: Aus «Sibe Brünne» wurde über die Jahrhunderte erst «Sibne», dann «Simme». So einfach kann Sprachentwicklung sein. Der kleine Fluss, der hier seinen Lauf beginnt, wird nach gut 50 Kilometern bei Wimmis in die Kander münden, die wiederum in den Thunersee fliesst.
Wenn Wasser zur Gewalt wird
Was oberhalb der Alp Rezliberg noch friedlich aus dem Fels tröpfelt, verwandelt sich wenige hundert Meter talabwärts in ein beeindruckendes Schauspiel roher Naturgewalt. Die Simmenfälle stürzen über mehrere Kaskaden rund 200 Meter in die Tiefe. Hier entwickelt das Wasser seine ganze Kraft – und die ist gewaltig.
Das Getöse hörst du schon lange, bevor du die Fälle siehst. Wassermassen donnern über Stein und Fels, wirbeln Gischt hoch und hüllen die gesamte Umgebung in einen feinen Wassernebel. An warmen Sommertagen riecht es hier nach feuchter Erde und Moos, während der Sprühnebel für willkommene Abkühlung sorgt. Manchmal, wenn die Sonne richtig steht, zaubert die Gischt kleine Regenbogen in die Luft.
Vom Restaurant Simmenfälle aus führt ein breiter, gut ausgebauter Weg zur berühmten Barbarabrücke hinauf. Dieser Damm vor dem Wasserfall ist übrigens kein Zufallsprodukt der Natur, sondern ein cleveres Wehr zur Umleitung der jungen Simme. Bereits im späten 18. Jahrhundert bauten die Lenker diese Schutzmaßnahme gegen Hochwasser. Der Name? Barbara hieß die Frau des damaligen Kurhaus-Direktors, der die touristische Erschließung der Simmenfälle vorantrieb.
Auge in Auge mit den Wassermassen
Von der Barbarabrücke aus erlebst du die Simmenfälle hautnah. Hier spritzt dir die Gischt ins Gesicht, das eiskalte Wasser prickelt auf der Haut. Du stehst praktisch mitten im Wasserfall – so nah, dass du ihn fast berühren könntest. Das Donnern ist hier ohrenbetäubend, das Schauspiel überwältigend.
Spannend ist dabei, wie tief sich die junge Simme bereits in den Fels gefressen hat. Tiefe Einschnitte und Schluchten zeugen von der jahrtausendelangen Arbeit des Wassers. Was heute als romantisches Naturschauspiel daherkommt, ist in Wahrheit ein gewaltiger geologischer Prozess – Erosion in Zeitlupe, sozusagen.
Wer genau hinschaut, entdeckt in den Felswänden verschiedene Gesteinsschichten. Der helle Kalkstein erzählt Geschichten aus längst vergangenen Zeitaltern, als hier noch ein warmes Meer wogte. Fossilien findest du zwar keine direkt am Wasserfall, aber die Geologie ist trotzdem faszinierend.
Kraftplatz und Ruheoase
Die Sibe Brünne gelten nicht umsonst als Kraftort. Hier oben, wo das Wasser seinen Ursprung nimmt, herrscht eine besondere Atmosphäre. Vielleicht liegt es am konstanten Plätschern der sieben Quellen, vielleicht an der imposanten Bergkulisse ringsum. Jedenfalls ist es ein Platz, an dem man gerne verweilt.
Auf der Alp Rezliberg stehen ein paar einfache Holzbänke – perfekt für eine Rast. Hier lässt sich wunderbar die Brotzeit auspacken und dem gleichmäßigen Rauschen des Wassers lauschen. Die Luft ist klar und frisch, oft ein paar Grad kühler als im Tal. An heißen Sommertagen ist das eine echte Wohltat.
Manche Besucher schwören darauf, dass die Sibe Brünne tatsächlich besondere Energie ausstrahlen. Ob da was dran ist? Schwer zu sagen. Fest steht: Die Ruhe hier oben tut gut. Keine Autos, kein Handy-Empfang – nur du, das Wasser und die Berge.
Wandern zwischen Quellen und Wasserfällen
Der klassische Weg zu den Sibe Brünne beginnt bei den Simmenfällen. Von hier aus führt ein steiler, aber gut markierter Pfad bergauf. Nach etwa einer Viertelstunde erreichst du die Barbarabrücke – ein obligatorischer Stopp für das Gischt-Erlebnis. Von dort geht es kurvenreich durch den Bergwald weiter hinauf.
Der Aufstieg zur Alp Rezliberg dauert insgesamt etwa eine Stunde und 15 Minuten. Nicht die Welt, aber durchaus anstrengend. Trittsicherheit solltest du mitbringen, besonders bei feuchten Verhältnissen kann es rutschig werden. Feste Wanderschuhe sind Pflicht.
Wer mehr Zeit hat, kann die Tour zur Iffigenalp ausdehnen. Der Weg führt über die Langermatte, vorbei an urigen Sennhütten und durch saftige Alpweiden. Hier oben weideten schon vor Jahrhunderten die Kühe der Lenker Bauern. Manchmal hörst du noch heute das Gebimmel der Kuhglocken durch die Bergluft schallen.
Von der Iffigenalp aus lohnt sich ein Abstecher zum Iffigfall – einem weiteren spektakulären Wasserfall, der über mehr als hundert Meter in die Tiefe stürzt. Dieser gehört zum Naturschutzgebiet Gelten-Iffigen und ist deutlich weniger besucht als die Simmenfälle. Dafür umso ursprünglicher.
Zurück ins Tal geht es bequem mit dem Bus von der Iffigenalp direkt nach Lenk. Die Fahrzeit beträgt etwa 20 Minuten – eine entspannte Art, den Tag ausklingen zu lassen.
Praktische Hinweise
Die Anreise erfolgt mit der Bahn bis Lenk im Simmental. Von dort kannst du entweder zu Fuß zu den Simmenfällen gehen (etwa 5 Kilometer) oder den Postbus nehmen. Der Bus fährt mehrmals täglich und bringt dich direkt zum Ausgangspunkt der Wanderung.
Beste Reisezeit ist von Mai bis Oktober, wobei die Wasserfälle im Frühsommer nach der Schneeschmelze am eindrucksvollsten sind. Im Winter sind die Wege oft unpassierbar oder vereist. Dafür bieten die gefrorenen Wasserfälle dann ein völlig anderes, nicht minder spektakuläres Bild.
Plan für die reine Wanderung zu den Sibe Brünne etwa 2,5 Stunden ein (hin und zurück). Wer bis zur Iffigenalp geht, sollte einen ganzen Tag einkalkulieren. Vergiss nicht, genügend Wasser mitzunehmen – auch wenn es paradox klingt bei all dem Wasser ringsum. Trinkbar ist das Bergwasser durchaus, aber eine eigene Flasche ist praktischer.
Im Restaurant Simmenfälle kannst du vor oder nach der Wanderung einkehren. Die Küche ist bodenständig-schweizerisch, die Portionen ordentlich. Der Rösti schmeckt besonders gut nach einem anstrengenden Aufstieg.
Ein Stück unberührte Natur
Was die Sibe Brünne und Simmenfälle so besonders macht, ist ihre Ursprünglichkeit. Hier ist die Natur noch weitgehend sich selbst überlassen. Klar, der Wanderweg ist angelegt und die Barbarabrücke ist Menschenwerk. Aber im Großen und Ganzen zeigt sich hier die Schweizer Bergwelt, wie sie schon vor Jahrhunderten gewesen sein muss.
Das merkt man auch an der Tierwelt. Mit etwas Glück entdeckst du Steinböcke an den steilen Hängen oder Murmeltiere in den Alpwiesen. Bartgeier kreisen gelegentlich über den Gipfeln, und in den Wäldern leben Hirsche und Rehe. Die Pflanzenwelt ist ebenfalls reich: Von zarten Alpenblumen bis zu robusten Bergföhren findet sich hier alles, was das Botaniker-Herz höher schlagen lässt.
Besonders im Herbst, wenn sich die Lärchen golden färben, ist die Stimmung hier oben unbeschreiblich schön. Dann liegt oft schon der erste Schnee auf den Gipfeln, während in den tieferen Lagen noch warme Herbstsonne für T-Shirt-Wetter sorgt.