Frankreich

Von Herzögen und Handelswegen: Die Geschichte des Herzogtums Savoyen

Zwischen Mont Blanc und Genfersee liegt eine Region, die ihre eigene Geschichte schreibt. Hier erzählen mittelalterliche Schlösser von einem Herzogtum, das einst halb Europa beeinflusste.

Frankreich  |  Kultur & Geschichte
Lesezeit: ca. 9 Min.
Kommentare
Teilen
Facebook
Pocket
E-Mail
0
Kommentare
Facebook
Pocket
E-Mail
Zwischenablage

Savoyen war nie nur eine Randnotiz der europäischen Geschichte. Im Gegenteil – dieses Herzogtum mischte über Jahrhunderte kräftig mit, wenn es um Macht, Politik und kulturelle Einflüsse ging. Gegründet im 11. Jahrhundert durch Humbert I. mit dem schönen Beinamen "Weißhändiger", entwickelte sich das Haus Savoyen zu einer der langlebigsten Dynastien Europas. Dass ausgerechnet diese alpine Region später die Einigung Italiens vorantreiben würde, ahnte damals wohl niemand.

Die geografische Lage zwischen Frankreich, Italien und der Schweiz machte Savoyen zum Knotenpunkt europäischer Handelswege. Über die Alpenpässe flossen nicht nur Waren, sondern auch Ideen, Sprachen und kulturelle Einflüsse. So entstand eine ganz eigene Mischung, die bis heute in den Straßen von Chambéry und Annecy spürbar ist. Man könnte sagen: Savoyen war schon europäisch, bevor es Europa gab.

Besonders interessant wird die Geschichte im 14. Jahrhundert, als Amadeus VI., der "Grüne Graf", das Herzogtum zur Großmacht ausbaute. Seine Kreuzzüge und diplomatischen Erfolge brachten Savoyen europäische Anerkennung. Später, im 16. Jahrhundert, wurde Turin zur Hauptstadt – ein Wechsel, der die französischen Gebiete um Chambéry zwar politisch schwächte, kulturell aber eigenständiger machte.

Chambéry - Hauptstadt mit italienischem Herz

Wer heute durch Chambéry spaziert, läuft buchstäblich über Geschichte. Die Altstadt mit ihren Arkadengängen erinnert mehr an Norditalien als an typisch französische Städte. Das liegt daran, dass Chambéry von 1232 bis 1562 die Hauptstadt des Herzogtums war – eine Zeit, die Spuren hinterließ, die sich nicht einfach übermalen lassen.

Das Château de Chambéry thront noch immer über der Stadt und erzählt seine eigenen Geschichten. Hier residierte die herzogliche Familie, hier wurde Politik gemacht, und hier bewahrte man zeitweise das Turiner Grabtuch auf. Ja, richtig gelesen – das berühmte Leichentuch Christi hatte seine Heimat jahrzehntelang in dieser savoyischen Stadt. Die Sainte-Chapelle im Schloss wurde extra dafür gebaut und zeigt noch heute die aufwendigen gotischen Details jener Zeit.

Spannend ist dabei, dass Chambéry nie ganz französisch wurde, obwohl es seit 1860 zu Frankreich gehört. In den engen Gassen der Altstadt hört man noch heute italienische Familiennamen, und die Architektur folgt eher piemontesischen als französischen Vorbildern. Die berühmten Portiques – überdachte Arkadengänge – sind ein direktes Erbe der italienischen Bauweise und prägen das Stadtbild bis heute.

Annecy - Venedig der Alpen?

Der Vergleich mit Venedig drängt sich bei Annecy geradezu auf, und er ist nicht ganz falsch. Die Kanäle, die sich durch die Altstadt schlängeln, verleihen der Stadt tatsächlich etwas Venezianisches. Aber halt – Annecy ist viel authentischer und weniger touristisch überlaufen. Hier leben Menschen, hier wird gearbeitet, hier ist die Historie noch lebendig und nicht nur Kulisse.

Die Geschichte Annecys ist eng mit der der Grafen von Genf verknüpft, die im 12. Jahrhundert hier eine Burg errichteten. Als das Haus Savoyen die Region übernahm, wurde Annecy zu einem wichtigen Verwaltungszentrum. Besonders prägend war die Zeit der Gegenreformation im 16. Jahrhundert, als der heilige Franz von Sales hier wirkte und die Stadt zu einem Zentrum der katholischen Erneuerung machte.

Das Palais de l'Isle mitten im Thiou-Fluss ist das Wahrzeichen schlechthin. Früher Gefängnis, später Gericht, heute Museum – das dreieckige Gebäude sieht aus wie ein Schiff, das in den Kanal gebaut wurde. Drumherum gruppieren sich pastellfarbene Häuser, deren Fassaden die jahrhundertelange Geschichte der Stadt widerspiegeln. Manche stammen aus dem Mittelalter, andere aus der Barockzeit, alle aber folgen der typisch savoyischen Bauweise mit ihren charakteristischen Balkonen und Erkern.

Sprache als lebendiges Kulturerbe

In Savoyen sprechen die Steine, könnte man sagen. Und sie sprechen nicht nur Französisch. Das Franco-Provenzalische, auch Arpitanisch genannt, war jahrhundertelang die Muttersprache der Region. Heute hört man es kaum noch, aber seine Spuren sind überall: in Ortsnamen, Flurnamen und regionalen Ausdrücken, die sich hartnäckig im Alltag halten.

Ortsnamen wie Chamonix (aus "champ munis", befestigtes Feld) oder Megève (von "my geva", mein Hügel) erzählen kleine Geschichten aus längst vergangenen Zeiten. Selbst das moderne Französisch der Region trägt deutliche Spuren dieser alten Sprache. Wer genau hinhört, erkennt Besonderheiten in der Aussprache und Begriffe, die anderswo in Frankreich unbekannt sind.

Interessant ist auch der italienische Einfluss, der bis heute nachwirkt. Viele Familien in der Region haben italienische Wurzeln, und ihre Namen prägen die Telefonbücher von Chambéry bis Annecy. Diese sprachliche Vielfalt ist mehr als nur Folklore – sie zeigt, wie durchlässig die Grenzen in den Alpen schon immer waren und wie sich Kulturen über Jahrhunderte vermischten, ohne ihre Eigenarten zu verlieren.

Architektur zwischen Frankreich und Italien

Savoyische Architektur ist schwer zu definieren, weil sie ein bisschen von allem hat. Französische Eleganz trifft auf italienische Leichtigkeit, alpine Zweckmäßigkeit auf fürstliche Repräsentation. Das Ergebnis ist eine ganz eigene Formensprache, die nirgendwo anders zu finden ist.

Die typischen Stadthäuser in Chambéry und Annecy zeigen diese Mischung deutlich. Erdgeschosse aus Stein, oft mit Arkadengängen für Handel und Handwerk, darüber mehrere Stockwerke aus Holz oder Fachwerk. Die Dächer sind steil – schließlich muss der Schnee abfließen – aber die Proportionen folgen mediterranen Vorbildern. Balkongeländer aus Schmiedeeisen, wie sie auch in Turin oder Mailand zu finden sind, verleihen den Fassaden italienisches Flair.

Besonders markant sind die Schlösser der Region. Das Château d'Annecy thront massiv über der Stadt, seine Türme und Mauern erzählen von Jahrhunderten wechselnder Besitzer und Baustile. Romanische Grundstrukturen treffen auf gotische Erweiterungen und Renaissance-Umbauten. Jede Epoche hinterließ ihre Spuren, ohne die vorherigen zu tilgen. So entstand eine Architektur der Schichten, die typisch für die gesamte Region ist.

Kirchenarchitektur verdient einen eigenen Blick. Die Kathedrale von Chambéry zeigt deutlich italienische Einflüsse – kein Wunder, stand sie doch jahrhundertelang unter der Aufsicht von Bischöfen, die oft aus dem Piemont stammten. Ihre barocke Innenausstattung mit den typischen Stuckarbeiten und Fresken könnte genauso gut in einer italienischen Stadt stehen. Nur die gotischen Grundstrukturen verraten den französischen Einfluss.

Regionale Identität zwischen den Welten

Was macht einen Savoyarden aus? Diese Frage ist komplizierter zu beantworten, als man zunächst denkt. Die Menschen hier sind weder richtig französisch noch italienisch, sondern etwas Drittes. Sie haben ihre eigene Art, die Welt zu betrachten, ihre eigenen Traditionen und eine ganz spezielle Beziehung zu ihren Bergen.

Die alpine Mentalität spielt dabei eine wichtige Rolle. Jahrhundertelang lebten die Menschen hier in relative Isolation, abhängig vom Rhythmus der Jahreszeiten und den Launen des Wetters. Das prägte eine Kultur der Selbständigkeit und Zusammengehörigkeit. Man half sich gegenseitig, weil das Überleben davon abhing. Diese Solidarität ist bis heute zu spüren, auch wenn längst niemand mehr ums Überleben kämpfen muss.

Kulinarisch zeigt sich die savoyische Identität am deutlichsten. Fondue und Raclette sind hier zu Hause, aber auch weniger bekannte Spezialitäten wie die Crozets (kleine quadratische Nudeln) oder die Diots (würzige Würste). Diese Gerichte entstanden aus der Notwendigkeit, haltbare und nahrhafte Nahrung für lange Winter zu produzieren. Heute sind sie Symbole regionaler Identität und ziehen Touristen aus aller Welt an.

Festivals und Traditionen halten die savoyische Kultur lebendig. Das Fest der Almabtriebe im Herbst ist mehr als nur touristisches Spektakel – es verbindet die Menschen mit ihrer bäuerlichen Vergangenheit und dem Rhythmus der Berge. Die Trachten, die dabei getragen werden, unterscheiden sich deutlich von deutschen oder österreichischen Dirndln. Sie sind schlichter, praktischer und zeigen französischen Einfluss in Schnitt und Farben.

Savoyen heute

Die moderne Region Savoyen ist ein interessantes Beispiel dafür, wie historisches Erbe und zeitgenössische Entwicklung zusammenfinden können. Chambéry ist heute eine lebendige Universitätsstadt mit über 60.000 Einwohnern, die ihre Geschichte nicht versteckt, sondern als Standortvorteil nutzt. Annecy hat sich zum Zentrum der französischen Animationsfilmindustrie entwickelt – ein überraschender Wandel für eine Stadt, die jahrhundertelang von Landwirtschaft und Handwerk lebte.

Tourismus spielt natürlich eine wichtige Rolle, aber er ist anders als in vielen anderen Alpenregionen. Savoyen setzt nicht nur auf Wintersport und Bergsteigen, sondern auch auf Kulturtourismus. Die Schlösser, Museen und historischen Stadtzentren ziehen Menschen an, die mehr suchen als nur schöne Landschaft. Dieser sanfte Tourismus passt zur savoyischen Mentalität, die Fortschritt und Tradition in Einklang zu bringen sucht.

Spannend ist auch die Rolle Savoyens in der europäischen Integration. Als Grenzregion zwischen drei Ländern profitiert die Gegend besonders von der Öffnung der Grenzen. Viele Menschen arbeiten in der Schweiz und leben in Frankreich, andere pendeln nach Italien. Diese Mobilität ist nichts Neues – sie knüpft an jahrhundertealte Traditionen an, als Handelswege und kultureller Austausch die Region prägten.

Das Erbe der Herzöge lebt weiter

Was bleibt von einem Herzogtum, das vor über 150 Jahren aufgehört hat zu existieren? In Savoyen ist die Antwort überall sichtbar. In der Architektur der Altstädte, in den Namen der Straßen und Plätze, in der Art, wie Menschen miteinander umgehen. Das Haus Savoyen mag seine Macht verloren haben, aber sein kulturelles Erbe lebt weiter.

Die Wappen mit dem weißen Kreuz auf rotem Grund sind noch immer präsent – an Gebäuden, auf Denkmälern, in Museen. Sie erinnern an eine Zeit, als diese kleine alpine Region europäische Politik mitbestimmte. Heute ist das politische Gewicht natürlich geringer, aber der kulturelle Einfluss ist geblieben. Savoyen zeigt, dass regionale Identität und nationale Zugehörigkeit sich nicht ausschließen müssen.

Schreibe einen Kommentar
Bitte anmelden, um einen Kommentar zu schreiben.
 
Du 

Bisher keine Kommentare
Entdecke mehr:
Nach oben scrollen