Der Pragser Wildsee (italienisch: Lago di Braies) strahlt in einem fast unwirklichen Türkisblau zwischen den schroffen Felswänden der Dolomiten. Auf 1.496 Metern Höhe gelegen, ist er zum Symbol für die Naturschönheit Südtirols geworden. Morgens, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Bergspitzen berühren und das Wasser noch spiegelglatt daliegt, fällt es nicht schwer zu verstehen, warum dieser Ort jährlich hunderttausende Besucher anzieht. Doch der Pragser Wildsee ist heute ebenso Symbol für ein anderes Phänomen: Overtourism in den Alpen.
Seit Serien wie "Ein Schritt zum Abgrund" (im Original "Un passo dal cielo") den See als Kulisse nutzten und Instagram-Bilder des historischen Bootshauses viral gingen, hat sich die Besucherzahl vervielfacht. An Sommertagen drängen sich bis zu 10.000 Menschen am Ufer des vergleichsweise kleinen Bergsees. Absperrungen, Parkplatzlotsen und strenge Zufahrtsregeln sind mittlerweile unumgänglich. Von Juni bis September darf man zwischen 9:30 und 16 Uhr nur mit Shuttle-Bus oder gebuchtem Hotelparkplatz anreisen. Wer den See in seiner natürlichen Stille erleben möchte, muss im Morgengrauen kommen oder – noch besser – den Blick auf die umliegende Region erweitern.
Der See selbst liegt eingebettet im Naturpark Fanes-Sennes-Prags, einem der größten Schutzgebiete Südtirols. Seine Wassertiefe beträgt maximal 36 Meter, und seine charakteristische Farbe entsteht durch die besonderen Mineralien des Gesteins im Umkreis. Die traditionellen Holzboote, die am Ufer für Rundfahrten vermietet werden, sind zwar touristisch, aber dennoch ein Stück authentische Tradition, die bis ins Jahr 1904 zurückreicht, als das angrenzende Hotel Pragser Wildsee eröffnete.
Früh am Morgen: Der See gehört dir
Während Reiseblogs und Tourismuswebseiten meistens von den Beschränkungen und der Überfüllung des Sees berichten, vergessen sie oft zu erwähnen, dass es durchaus Möglichkeiten gibt, den Lago di Braies in seiner ursprünglichen Magie zu erleben. Die Strategie ist denkbar einfach: Komm früh. Sehr früh.
Wer es schafft, vor 7 Uhr morgens am See zu sein, erlebt eine völlig andere Atmosphäre. Die ersten Sonnenstrahlen kriechen langsam über die Bergkämme, der Nebel tanzt noch über dem Wasser, und die absolute Stille wird nur vom gelegentlichen Vogelruf unterbrochen. Zu dieser Zeit parkt man problemlos auf dem großen Parkplatz am See (im Sommer gegen Gebühr), und kann in aller Ruhe den 3,5 Kilometer langen Rundweg um den See genießen.
Der Lago di Braies ist aber mehr als nur ein fotogenes Postkartenmotiv. Hier beginnt der Dolomiten-Höhenweg Nr. 1, eine der bekanntesten Fernwanderrouten durch die Dolomiten. Was viele nicht wissen: Der Pragser Wildsee hat am Ende des Zweiten Weltkriegs als Schauplatz einer dramatischen Befreiungsaktion von 137 prominenten Kriegsgefangenen gedient, die als "VIP-Geiseln" der SS festgehalten wurden. Eine kleine Gedenktafel am See erinnert an dieses weitgehend vergessene Kapitel seiner Geschichte.
Das Pragser Tal: Die unentdeckte Schönheit
Das eigentliche Geheimnis liegt jedoch nicht im frühzeitigen Besuch des Sees, sondern im Pragser Tal selbst. Das knapp 20 Kilometer lange Tal erstreckt sich von Niederdorf im Pustertal bis hinauf zum Pragser Wildsee und darüber hinaus. Der untere Teil des Tals, wo die Pragserwildbäche durch saftige Almwiesen mäandern, wird von den meisten Touristen lediglich durchfahren, um schnell zum berühmten See zu gelangen.
Dabei bietet gerade dieser Teil des Tals authentische Einblicke in das traditionelle Leben Südtirols. Kleine Dörfer wie Schmieden und St. Veit mit ihren charakteristischen Kirchtürmen und Bauernhöfen liegen verstreut zwischen grünen Weiden. Die Luft riecht nach frisch gemähtem Gras und Holzfeuern. In den Hofläden entlang der Hauptstraße verkaufen Bauern selbstgemachten Käse, Speck und Brot – ohne Touristenaufschlag und mit genügend Zeit für ein Pläuschchen über das Wetter und die diesjährige Heuernte.
Besonders sehenswert ist die Pfarrkirche von Alt-Prags mit ihren gotischen Elementen und dem beeindruckenden Flügelaltar. Eine Besichtigung lässt sich wunderbar mit einer gemütlichen Wanderung durch die sanften Hänge des unteren Tals verbinden. Die Wege sind gut markiert, aber selten überlaufen. Im Hochsommer suchen hier vor allem Einheimische Zuflucht vor der Hitze des Pustertals.
Abseits der Trampelpfade: Die Nebentäler des Pragser Tals
Richtig einsam wird es in den Nebentälern des Pragser Haupttals. Das Grünwaldtal etwa zweigt kurz vor dem Pragser Wildsee ab und führt in eine völlig andere Welt. Der schmale Pfad schlängelt sich durch dichten Wald, überquert mehrmals rauschende Gebirgsbäche und öffnet sich schließlich zu einer weiten Almlandschaft, die von den imposanten Gipfeln der Hohen Gaisl und des Dürrenstein eingerahmt wird.
Hier oben ist die Wahrscheinlichkeit, auf Gämsen, Murmeltiere oder sogar Adler zu treffen, deutlich höher als auf andere Wanderer. Die Stoppanihütte, eine einfache Schutzhütte auf 2.116 Metern Höhe, ist ein perfekter Ort für eine Rast mit selbst mitgebrachter Jause. Bei klarem Wetter reicht der Blick von hier bis zu den Drei Zinnen.
Ein weiteres Juwel ist das Knappenfußtal, das seinen Namen den ehemaligen Bergwerken verdankt. Der Weg dorthin beginnt ebenfalls in der Nähe des Pragser Wildsees, ist aber deutlich steiler und anspruchsvoller als der ins Grünwaldtal. Dafür wird man mit einer fast surrealen Landschaft belohnt – schroffe Felsen in den intensiven Rot- und Gelbtönen der Dolomiten ragen über saftig grüne Almwiesen, auf denen im Frühsommer tausende Alpenblumen blühen. Mancherorts zeugen Reste alter Stolleneingänge von der bergbaulichen Vergangenheit des Tals.
Die vergessenen Wanderwege: Fünf lohnende Routen
Während die meisten Besucher am Pragser Wildsee nur den Uferrundweg oder den Anfang des Dolomiten-Höhenwegs Nr. 1 kennen, gibt es im Pragser Tal zahlreiche Wanderrouten, die selbst an Hochsaisontagen selten überlaufen sind.
Besonders empfehlenswert ist der Aufstieg zur Rossalm (2.164 m). Der Weg beginnt unscheinbar am Parkplatz der Plätzwiese, etwa 10 Kilometer vom Pragser Wildsee entfernt. Nach einem moderaten Anstieg durch lichten Lärchenwald erreicht man eine weitläufige Hochalm mit einem der spektakulärsten Panoramen der Region. Die gesamte nördliche Dolomitenlandschaft breitet sich vor einem aus – von den Drei Zinnen über den Monte Cristallo bis zur Hohen Gaisl. Unterwegs passiert man die bewirtschaftete Rossalm-Hütte, wo selbstgemachter Apfelstrudel und hausgebrautes Bier auf müde Wanderer warten.
Eine andere Route führt vom kleinen Ort Schmieden durch das idyllische Wielental zur Pfaffenbergalm. Der Weg folgt meist einem plätschernden Bach und steigt nur moderat an, was ihn auch für Familien mit Kindern geeignet macht. Oben angekommen belohnt ein weiter Blick über das gesamte Pragser Tal die Mühen des Aufstiegs. Die Alm wird im Sommer bewirtschaftet und bietet traditionelles "Marende" – die typische Südtiroler Jause mit Speck, Käse und hausgebackenem Brot.
Für erfahrene Bergsteiger bietet der Dürrenstein (2.839 m) eine anspruchsvolle Tour mit atemberaubender Aussicht. Der kürzeste Anstieg beginnt an der Plätzwiese und führt über steile Schotterhänge und felsiges Gelände zum Gipfel. Bei gutem Wetter reicht die Sicht von hier bis zum Großglockner und zur Marmolada. Für diese Tour sollten allerdings Trittsicherheit, Schwindelfreiheit und alpine Erfahrung vorhanden sein.
Weniger bekannt, aber landschaftlich beeindruckend ist der Prager Höhenweg, der das gesamte Tal auf halber Höhe umrundet. Die Gesamtstrecke beträgt etwa 25 Kilometer und wird meist in mehreren Etappen gegangen. Unterwegs passiert man abgelegene Almhütten, urige Berggasthöfe und immer wieder Aussichtspunkte, die einen neuen Blickwinkel auf das Tal eröffnen. Im Gegensatz zum überlaufenen Dolomiten-Höhenweg Nr. 1 begegnet man hier vorwiegend Einheimischen und eingefleischten Kennern der Region.
Eine besonders stille Route für heiße Sommertage ist der Schattenweg entlang des Pragserwildbachs. Er beginnt in Alt-Prags und folgt dem rauschenden Gewässer durch dichte Fichtenwälder bis zur Waldkapelle, einem idyllischen Ort der Ruhe und Besinnung. Der dichte Wald sorgt selbst bei Hitze für angenehme Temperaturen, und das konstante Rauschen des Wassers wirkt fast meditativ. Zwischendurch laden natürliche Badestellen zum Erfrischen der müden Füße ein – das Wasser ist allerdings selbst im Hochsommer eisig.
Leben mit dem Tourismus: Einheimische Perspektiven
Das Verhältnis der Einheimischen zum Tourismusboom am Pragser Wildsee ist zwiespältig. Einerseits hat der Ansturm wirtschaftlichen Wohlstand gebracht, andererseits hat er das Tal grundlegend verändert. "Früher war der See ein Ort der Stille, an dem wir Sonntagnachmittage verbracht haben", erzählt Maria, die in dritter Generation einen Bauernhof im Tal bewirtschaftet. "Heute meiden wir ihn im Sommer komplett."
Die Gemeinde Prags hat in den letzten Jahren strenge Regulierungen eingeführt, um den Massentourismus einzudämmen. Das Zufahrtssystem mit Shuttle-Bussen hat die Situation verbessert, doch an die Zeiten vor dem Instagram-Boom kann sich kaum jemand mehr erinnern. Gleichzeitig bemühen sich lokale Initiativen, Besucher für die weniger bekannten Teile des Tals zu begeistern und so den Druck auf den See zu verringern.
Josef, der ein kleines Hotel im unteren Tal betreibt, sieht darin eine Chance: "Viele Gäste kommen nur wegen des Sees, aber sie bleiben wegen der Ruhe und Schönheit des restlichen Tals. Wenn sie einmal die versteckten Winkel entdeckt haben, kommen sie oft wieder – und zwar nicht mehr im August, sondern in der Nebensaison."
Jahreszeiten: Wann ist die beste Reisezeit?
Der Pragser Wildsee und das umliegende Tal zeigen in jeder Jahreszeit ein anderes Gesicht. Der Hochsommer (Juli und August) bringt nicht nur die höchsten Besucherzahlen, sondern auch die stabilste Wetterlage mit warmen Tagen und kühlen Nächten. Wer in dieser Zeit anreist, sollte den See entweder sehr früh am Morgen oder am späten Nachmittag besuchen.
Der Frühsommer (Ende Mai bis Juni) bietet eine besondere Attraktion: Die Almwiesen explodieren förmlich in einem Meer aus Wildblumen. Arnika, Enzian, Alpenrosen und unzählige andere Arten verwandeln die Berghänge in natürliche Blumengärten. Gleichzeitig sind die Wanderwege noch nicht überlaufen, und das Wetter ist meist schon stabil genug für ausgedehnte Touren.
Der Herbst hat seinen ganz eigenen Reiz. Ab Mitte September leeren sich die Parkplätze spürbar, und die Lärchenwälder beginnen, sich goldgelb zu färben. Das klare Herbstlicht sorgt für besonders intensive Farben, und die Luft wird zunehmend klarer, was die Fernsicht verbessert. Allerdings sollte man auf plötzliche Wetterumschwünge vorbereitet sein – warme Kleidung und Regenschutz gehören jetzt in jeden Rucksack.
Der Winter verwandelt das Pragser Tal in eine stille Schneelandschaft. Der zugefrorene See wird dann zum natürlichen Eislaufplatz, und die umliegenden Berge bieten ideale Bedingungen für Schneeschuhwanderungen. Das Hotel am See und einige Gasthöfe im Tal bleiben auch im Winter geöffnet, die meisten touristischen Einrichtungen schließen jedoch von November bis April.
Praktisches für die Reise
Die Anreise ins Pragser Tal erfolgt am besten über das Pustertal. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreicht man zunächst Niederdorf (Villabassa) oder Welsberg (Monguelfo) mit der Pustertalbahn. Von dort verkehren regelmäßig Busse ins Pragser Tal und in den Sommermonaten direkt zum Pragser Wildsee.
Mit dem Auto fährt man auf der Brennerautobahn A22 bis zur Ausfahrt Brixen/Pustertal und folgt dann der Pustertaler Staatsstraße bis Niederdorf. Dort zweigt die Straße ins Pragser Tal ab. Wichtig zu wissen: In der Hauptsaison (etwa 10. Juli bis 10. September) ist die Zufahrt zum See zwischen 9:30 und 16:00 Uhr nur mit gültiger Parkplatzreservierung oder Hotelbestätigung möglich. Alternativ kann man das Shuttle-Bus-System nutzen, das von Welsberg und Niederdorf zum See fährt.
Unterkünfte gibt es für jeden Geschmack und Geldbeutel: vom historischen Hotel direkt am See (gehobene Preisklasse) über gemütliche Pensionen im Tal bis hin zu einfachen Berghütten und Ferienwohnungen auf Bauernhöfen. In der Hochsaison empfiehlt sich eine frühzeitige Buchung, vor allem wenn man in der Nähe des Sees übernachten möchte.
Ausrüstungstechnisch sollte man auch im Sommer auf schnelle Wetterumschwünge vorbereitet sein. Feste Wanderschuhe sind für die meisten Touren unerlässlich, ebenso wie Regenschutz, Sonnenschutz und ausreichend Trinkwasser. In den höheren Lagen kann es selbst im August empfindlich kalt werden – eine Jacke gehört daher immer in den Rucksack.