Am westlichen Rand der Schweizer Alpen, genau an der Grenze zwischen den Kantonen Neuenburg und Waadt, klafft eine fast unglaubliche Landschaftsformation in den Fels: der Creux du Van. Ein hufeisenförmiger Felsenkessel mit nahezu senkrechten Wänden, die bis zu 160 Meter in die Tiefe stürzen. Die Dimensionen beeindrucken selbst jene, die schon viel von der Welt gesehen haben – mehr als ein Kilometer Durchmesser und ein Umfang von fast vier Kilometern. Es ist, als hätte ein Riese mit gigantischem Werkzeug einen perfekten Halbkreis aus dem massiven Kalkstein geschlagen.
Der Name "Creux du Van" stammt aus dem Dialekt der Region. "Creux" bedeutet Mulde oder Vertiefung, während "Van" sich vom keltischen Wort "van" (Fels) ableitet. Also nichts anderes als "Felsmulde" – eine ziemlich untertriebene Bezeichnung für dieses grandiose Naturmonument. Geologisch betrachtet entstand der Kessel während der letzten Eiszeit. Erosion durch Gletscher und Wasser formte über Jahrtausende diese fast perfekte amphitheaterartige Struktur – ein Prozess, der sich in kleinerem Maßstab bis heute fortsetzt. Wandert man am oberen Rand, bemerkt man schnell die bizarre Mischung aus felsigem Untergrund und üppiger Vegetation – typisch für die Karstlandschaft des Jura.
Die geologische Besonderheit des Creux du Van tritt besonders deutlich im Vergleich zu seiner Umgebung hervor. Während die Juraketten meist aus sanften, mit Weiden und Wäldern bedeckten Höhenzügen bestehen, bricht hier plötzlich die Landschaft ab, als wäre ein riesiges Stück herausgeschnitten worden. Die freiliegenden Kalksteinschichten erzählen die Geschichte von Jahrmillionen Erdgeschichte – wer genau hinschaut, kann versteinerte Überreste ehemaliger Meereslebewesen entdecken. Denn wo heute alpine Landschaft dominiert, wogte einst ein urzeitliches Meer.
Das Naturreservat: Ökologisches Juwel im Jura
Seit 1976 steht der Creux du Van und seine Umgebung unter Naturschutz – und das aus gutem Grund. Das Gebiet beherbergt eine erstaunliche biologische Vielfalt und gilt als eines der bedeutendsten Naturreservate der Schweiz. Auf relativ kleinem Raum treffen unterschiedlichste Lebensräume aufeinander: von alpinen Wiesen über dichte Nadelwälder bis hin zu kargen Felslandschaften. Diese ökologische Vielfalt ist Heimat für zahlreiche geschützte und bedrohte Tier- und Pflanzenarten.
Besonders bekannt ist der Creux du Van für seine Steinbockkolonie. Die majestätischen Tiere mit den imposanten Hörnern wurden hier erfolgreich wiederangesiedelt, nachdem sie in der Schweiz fast ausgerottet waren. Früh morgens oder in der Abenddämmerung stehen die Chancen am besten, die Tiere zu beobachten, wenn sie auf der Suche nach Nahrung die steilen Felswände entlangklettern – ein Schauspiel, das man stundenlang verfolgen kann. Neben Steinböcken leben hier auch Gämsen, Rehe, Füchse und sogar scheue Luchse. Das Gebiet ist zudem ein Paradies für Vogelbeobachter: Wanderfalken, Kolkraben und mit etwas Glück sogar der majestätische Steinadler kreisen über dem Kessel.
Die Flora des Creux du Van ist nicht minder beeindruckend. Die Kalkfelsen bieten ideale Bedingungen für spezialisierte Pflanzenarten, die sich an diese extremen Standorte angepasst haben. Edelweiß, verschiedene Orchideenarten und seltene Alpenblumen finden sich hier – allerdings sollte man sich aufs Beobachten beschränken, da viele unter Naturschutz stehen. Im Frühsommer verwandeln sich die Hochwiesen in ein Blütenmeer aus leuchtenden Farben, während im Herbst das goldene Licht die Laubwälder in warme Töne taucht. Faszinierend ist der Kontrast zwischen der schroffen Felsenlandschaft und den weichen, welligen Juraweiden, auf denen typisch schweizerische Kühe mit ihren Glocken grasen.
Die Luft hier oben hat etwas Besonderes an sich – klar und herb, mit dem Duft von Tannen und wilden Kräutern. Bei Föhnwetter kann die Fernsicht atemberaubend sein, während an Nebeltagen oft nur die höchsten Felskanten aus dem wogenden Wolkenmeer ragen. Dann wirkt der Ort fast unwirklich, wie eine schwebende Insel über den Wolken.
Wanderrouten: Für jeden Anspruch etwas dabei
Der Creux du Van erschließt sich am besten zu Fuß. Mehrere gut markierte Wanderwege führen durch das Gebiet und bieten unterschiedliche Perspektiven auf dieses Naturwunder. Je nach Kondition, verfügbarer Zeit und persönlichen Vorlieben lässt sich aus verschiedenen Routen wählen – von der gemütlichen Halbtageswanderung bis zur anspruchsvollen Tagestour.
Die klassische Rundtour beginnt in Noiraigue, einem kleinen Dorf, das mit dem Zug gut erreichbar ist. Von hier führt der Weg zunächst steil durch dichten Wald bergauf. Schweißtreibend ist dieser Anstieg, dafür aber überaus lohnend. Nach etwa 90 Minuten erreicht man den Rand des Felsenkessels – und wird mit einem der spektakulärsten Ausblicke der Schweiz belohnt. Der Weg folgt dann dem Rand des Kraters, immer mit fantastischem Blick in die Tiefe. An mehreren Aussichtspunkten kann man innehalten und das Panorama genießen. Besonders eindrucksvoll ist der Blick vom "Le Soliat", dem höchsten Punkt am Kraterrand auf 1463 Metern.
Ein Abstecher zur rustikalen Berghütte "Ferme du Soliat" lohnt sich. Hier gibt's deftige Bergkost – die regionalen Käsespezialitäten sollte man nicht verpassen. Nach der Stärkung führt der Weg durch lichte Wälder und über Juraweiden zurück ins Tal. Die gesamte Rundtour dauert etwa fünf bis sechs Stunden und ist mit normaler Kondition gut zu bewältigen. Festes Schuhwerk ist allerdings Pflicht, da Teile des Weges über felsigen Untergrund führen.
Für Familien mit Kindern oder weniger trittsichere Wanderer empfiehlt sich der Zugang von der Rückseite. Von den Parkplätzen bei der Ferme du Soliat erreicht man in wenigen Minuten den Rand des Kessels. Der Weg ist flach und gut ausgebaut. Trotzdem sollte man am Abgrund auf Kinder besonders gut aufpassen – die Aussichtspunkte sind zwar mit Geländern gesichert, aber Vorsicht ist geboten.
Abenteuerlustigen sei die anspruchsvolle Route durch die Schlucht "Sentier des quatorze contours" empfohlen. Vierzehn Kehren – daher der Name – winden sich steil den Hang hinauf. Der schmale Pfad ist teilweise exponiert und erfordert Trittsicherheit und Schwindelfreiheit. Die Mühe wird belohnt mit imposanten Ausblicken und dem guten Gefühl, einen der wildesten Wege der Region gemeistert zu haben.
Praktisches für die Planung
Der Creux du Van ist grundsätzlich ganzjährig zugänglich, doch jede Jahreszeit hat ihren eigenen Reiz. Im Frühjahr erwacht die Natur zu neuem Leben, und die Wiesen schmücken sich mit bunten Blumenteppichen. Der Sommer bietet meist stabiles Wetter und gute Fernsicht – allerdings muss man dann auch mit mehr Besuchern rechnen. Der Herbst verzaubert mit goldenen Farben und klarer Luft, während der Winter eine ganz eigene, stille Magie entfaltet. Bei Schnee verwandelt sich die Landschaft in eine märchenhafte Szenerie – dann ist aber besondere Vorsicht geboten, da die Wege rutschig sein können und Schneeverwehungen die Orientierung erschweren.
Die Anreise gestaltet sich am umweltfreundlichsten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Der Bahnhof Noiraigue ist gut an das schweizerische Schienennetz angebunden und dient als idealer Ausgangspunkt für Wanderungen. Wer mit dem Auto anreist, findet Parkplätze in Noiraigue sowie bei der Ferme du Soliat auf der Hochebene. An schönen Wochenenden können diese jedoch schnell belegt sein – eine frühe Ankunft zahlt sich aus.
An Ausrüstung sollte man auch im Sommer an warme Kleidung denken. Auf der Höhe kann es selbst an sonnigen Tagen frisch werden, und Wetterumschwünge sind in den Bergen keine Seltenheit. Ein Regenschutz gehört ins Gepäck, ebenso wie ausreichend Wasser und etwas Proviant. Zwar gibt es einige Berggasthöfe, doch auf manchen Routen kann es längere Strecken ohne Einkehrmöglichkeit geben. Eine gute Wanderkarte oder eine entsprechende App auf dem Smartphone ist sinnvoll, obwohl die Wege gut markiert sind.
Die touristische Infrastruktur ist bewusst zurückhaltend gehalten, um den natürlichen Charakter des Gebiets zu bewahren. Es gibt keine Seilbahnen oder andere technische Aufstiegshilfen – der Creux du Van will zu Fuß erobert werden. Genau das macht ihn aber zu einem besonderen Ziel für alle, die authentische Naturerlebnisse dem durchorganisierten Massentourismus vorziehen.
Fotografische Höhepunkte und beste Aussichtspunkte
Für Fotografen ist der Creux du Van ein wahres Eldorado. Die dramatische Landschaft, die wechselnden Lichtstimmungen und die reiche Tierwelt bieten unzählige Motive. Den besten Überblick über den gesamten Felsenkessel erhält man vom Aussichtspunkt Le Soliat. Hier lässt sich die perfekte Hufeisenform am eindrucksvollsten erfassen. Frühaufsteher werden mit magischem Licht belohnt, wenn die ersten Sonnenstrahlen die Felswände in goldenes Licht tauchen und langsam in den Kessel vordringen.
Ein besonderer Tipp für Fotoenthusiasten: Bei Inversionswetterlagen, meist im Herbst oder Winter, füllt oft dichter Nebel das Tal und den unteren Teil des Kessels. Die Felswände ragen dann wie Inseln aus dem wogenden Wolkenmeer – ein surrealer Anblick und fantastisches Fotomotiv. Solche Bedingungen lassen sich nicht planen, aber wer flexibel ist und die Wettervorhersage im Auge behält, kann sein Glück versuchen.
Für Aufnahmen der imposanten Felswände lohnt sich auch der Blick von unten. Vom Talgrund aus wirken die Dimensionen noch beeindruckender, die Wände scheinen förmlich über einem zu schweben. Allerdings ist dieser Blickwinkel schwieriger zu erreichen, da es nur wenige Wege gibt, die direkt unter die Felswände führen.
Wildtierbeobachter und -fotografen brauchen vor allem eines: Geduld. Die frühen Morgenstunden oder die Zeit kurz vor Sonnenuntergang erhöhen die Chancen, Steinböcke oder Gämsen vor die Linse zu bekommen. Ein Teleobjektiv ist dabei fast unverzichtbar. Mit etwas Glück erspäht man auch einen der majestätischen Greifvögel, die ihre Kreise über dem Kessel ziehen. Rücksichtnahme auf die Tiere hat jedoch immer Vorrang vor dem perfekten Foto – ein angemessener Abstand sollte stets gewahrt werden.
Neben der spektakulären Großlandschaft bietet der Creux du Van auch im Detail faszinierende Motive: verwitterte Baumstämme, die sich an scheinbar unmöglichen Stellen an den Fels klammern; filigrane Alpenblumen, die zwischen Felsen hervorsprießen; oder die bizarren Karstformationen des Kalksteins. Wer den Blick nicht nur in die Weite, sondern auch auf den Boden richtet, entdeckt eine Welt im Kleinen, die der großen Landschaft in nichts nachsteht.
Kulturelles Umfeld und lokale Besonderheiten
Der Creux du Van mag vor allem als Naturattraktion bekannt sein, doch die umliegende Region bietet auch kulturell Interessantes. Die nahe gelegene Stadt Neuenburg (Neuchâtel) mit ihrer malerischen Altstadt und dem imposanten Schloss lohnt einen Besuch. Die Region ist zudem bekannt für ihre Uhrmachertradition – in manchen Dörfern des Jura kann man noch kleine Werkstätten besichtigen, in denen präzise Schweizer Uhren entstehen.
Kulinarisch hat die Region einiges zu bieten. Die Berggasthöfe im Gebiet des Creux du Van servieren traditionelle Gerichte wie Fondue, Raclette oder die "Assiette du Berger" – eine herzhafte Platte mit lokalen Wurst- und Käsespezialitäten. Typisch für die Region ist auch der Absinthe, jener hochprozentige Kräuterschnaps mit bewegter Geschichte. Im Val-de-Travers, nur einen Katzensprung vom Creux du Van entfernt, wurde er im 18. Jahrhundert "erfunden" und später wegen seiner angeblich halluzinogenen Wirkung verboten. Seit der Legalisierung 2005 erlebt er eine Renaissance, und kleine Destillerien in der Umgebung laden zur Verkostung ein – natürlich erst nach der Wanderung!
Die lokale Mentalität ist geprägt von einer gewissen Zurückhaltung, aber auch von tiefer Verbundenheit mit der Landschaft. Die Bewohner des Jura gelten als eigenständig und stolz auf ihre Region. Dies spiegelt sich auch in der regionalen Architektur wider: Die typischen Jurabauernhöfe mit ihren massiven Steinfassaden und charakteristischen flachen Dächern sind perfekt an das raue Klima angepasst. Manche dieser Höfe beherbergen heute einfache Berggasthöfe, in denen Wanderer einkehren können.
Interessant ist auch die Sprachsituation – der Creux du Van liegt im französischsprachigen Teil der Schweiz, nicht weit von der Sprachgrenze zum Deutschen. Die lokalen Dialekte und Ausdrücke sind vom Jurassischen Französisch geprägt, das sich durch einige Besonderheiten vom Standardfranzösisch unterscheidet. Ein freundliches "Bonjour" wird aber überall verstanden und geschätzt.