Stell dir vor, du stehst am Fuße eines gewaltigen Berges und blickst nach oben. Was du siehst, sollte eigentlich unmöglich sein: Uralte, dunkle Gesteine liegen oben auf jüngeren, helleren Schichten. Als hätte jemand die Erdgeschichte auf den Kopf gestellt. Genau dieses Phänomen macht die Tektonikarena Sardona, die sich über die Kantone St. Gallen, Glarus und Graubünden erstreckt, zu einem geologischen Wunderwerk erster Güte.
Die sogenannte "Glarner Hauptüberschiebung" lässt sich hier mit bloßem Auge erkennen – eine dramatisch gezackte Linie, die sich durch die Berglandschaft zieht und zwei völlig unterschiedliche Gesteinswelten voneinander trennt. Unten das jüngere Flyschgestein, hellgrau und etwa 35-50 Millionen Jahre alt. Darüber, wo es eigentlich nicht hingehört, der rötliche Verrucano, der stolze 250-300 Millionen Jahre auf dem Buckel hat. Diese auffällige Verwerfung zieht sich über 40 Kilometer durch die Berglandschaft und ist selbst für Laien gut erkennbar.
Der Piz Sardona, mit seinen 3056 Metern nicht der höchste Berg der Gegend, hat der gesamten Landschaft seinen Namen geliehen. Doch auf Höhenmeter kommt es hier nicht an – die eigentliche Attraktion sind die sichtbar gewordenen tektonischen Prozesse, die sonst tief unter der Erdoberfläche verborgen bleiben. Wer hier wandert, wandert quasi durch ein aufgeschlagenes Lehrbuch der Geologie.
Eine Landschaft, die Geschichte schrieb
Die Tektonikarena Sardona trat 2008 ins Rampenlicht, als die UNESCO sie zum Weltnaturerbe erklärte. Nicht zum ersten Mal machte diese Landschaft Geschichte. Schon im 19. Jahrhundert sorgte sie für heftige Debatten unter Geologen. Der Schweizer Geologe Hans Conrad Escher von der Linth hatte 1807 als Erster die merkwürdige Umkehrung der Gesteinsschichten bemerkt. Sein Sohn Arnold Escher wagte sich an eine Erklärung heran, die so revolutionär erschien, dass er sie zunächst für sich behielt: Die älteren Gesteine müssten über die jüngeren geschoben worden sein.
Diese Überschiebungstheorie stellte das damalige geologische Weltbild auf den Kopf. Erst der Brite Albert Heim konnte die Fachwelt nach jahrzehntelangem Streit überzeugen. Das Sardona-Gebiet wurde damit zur Geburtsstätte eines fundamentalen Konzepts der modernen Geologie. Ohne die Erkenntnisse aus dieser Region wäre unser Verständnis der Gebirgsbildung heute ein anderes.
Der Wanderweg der Tektonikarena führt nicht nur durch atemberaubende Landschaften, sondern auch durch ein Stück Wissenschaftsgeschichte. Manch ein Felsbrocken, an dem du achtlos vorbeigehen könntest, wurde möglicherweise von berühmten Geologen beprobt und analysiert. Alte Markierungen aus frühen Forschungstagen sind gelegentlich noch zu entdecken. Die schrundigen Felswände haben mehr Besucher mit Geologenhammer gesehen als die meisten Museen.
Die Alpen im Zeitraffer – Wie Berge entstehen
Was hier vor Millionen von Jahren passierte, lässt sich durchaus als geologisches Drama bezeichnen. Als die afrikanische Kontinentalplatte langsam aber unaufhaltsam gegen die europäische drückte, türmten sich gewaltige Gesteinsmassen auf. Der Druck war so immens, dass ganze Gesteinsdecken wie riesige Teppiche über das Vorland geschoben wurden. Mit bloßem Auge kann man hier den Beweis für die Plattentektonik sehen – jene Theorie, die erst in den 1960er Jahren wissenschaftlich anerkannt wurde, aber in Sardona schon lange zuvor ihre Spuren hinterlassen hatte.
Besonders eindrucksvoll zeigt sich dies am Martinsloch – einer natürlichen Öffnung im Tschingelhoren. Zweimal im Jahr, im März und im September, scheint die Sonne durch dieses Loch hindurch und beleuchtet für wenige Minuten den Kirchturm von Elm. Ein Naturschauspiel, das die Menschen schon seit Jahrhunderten fasziniert. Die Entstehung dieses Lochs ist eng mit den tektonischen Bewegungen verbunden, die die gesamte Arena geprägt haben.
Das Panorama vom Segneshüttli aus gehört zu den lehrreichsten Aussichtspunkten. Von hier aus lässt sich die Glarner Hauptüberschiebung in ihrer ganzen Dramatik überblicken. Die schroffen Tschingelhörner und der mächtige Piz Segnas bilden eine natürliche Kulisse, in der die umgekehrte Welt der Gesteinsschichten besonders gut zu erkennen ist. Besucherinnen mit geschultem Auge können hier in kürzester Zeit mehr über Gebirgsbildung lernen als in so manchem Semester Geologie.
Wege durch die Zeit – Die besten Routen der Tektonikarena
Die Tektonikarena Sardona erstreckt sich über ein Gebiet von etwa 300 Quadratkilometern. Um sie richtig zu erkunden, solltest du mehrere Tage einplanen. Eine Vielzahl von Wanderwegen durchzieht das Gebiet – von gemütlichen Talwanderungen bis hin zu anspruchsvollen Hochgebirgstouren ist alles dabei.
Der "GeoWeg Mels" eignet sich hervorragend für den Einstieg. In etwa drei Stunden führt er dich vom Parkplatz Weisstannental hinauf zur Alp Siez. Unterwegs erklären Infotafeln die geologischen Besonderheiten auf verständliche Weise. Eine Erweiterung der Route führt zum Weisstannensee – ein türkisfarbener Bergsee, der zwischen mächtigen Felswänden eingebettet liegt.
Nicht unerwähnt bleiben darf die Segnespass-Route, die von Flims nach Elm führt. Diese zweitägige Wanderung gehört zu den Klassikern der Region. Übernachtet wird in der Segnespasshütte auf 2627 Metern Höhe. Von hier aus hat man einen spektakulären Blick auf die "Glarner Hauptüberschiebung". Die Berghütte ist von Juni bis Oktober geöffnet und bietet 45 Schlafplätze. Eine Reservierung ist dringend zu empfehlen, besonders an Wochenenden und während der Hauptsaison.
Als geologischer Höhepunkt gilt der sogenannte "Lochsite" bei Schwanden im Kanton Glarus. Hier tritt die Glarner Hauptüberschiebung besonders deutlich zutage. Eine Stahltreppe führt direkt an die Felswand heran, sodass Besucher die Gesteinsschichten aus nächster Nähe betrachten können. Die Stelle wurde bereits 1991 zum Naturdenkmal erklärt und gilt als wichtiges Referenzobjekt für Geologen aus aller Welt. Nicht selten trifft man hier auf internationale Studentengruppen, die mit Notizblock und Hammer bewaffnet die Felswand studieren.
Zwischen Felswänden und Granitblöcken – Die Flora und Fauna
Die Tektonikarena Sardona beherbergt nicht nur geologische Schätze. Die vielfältigen Lebensräume – von alpinen Wiesen über Felswände bis hin zu Gletscherresten – bieten zahlreichen Pflanzen- und Tierarten ein Zuhause. In den höheren Lagen gedeihen spezialisierte Alpenpflanzen wie Edelweiß, Enzian und Alpenrosen. Besonders im Frühsommer verwandeln sich die Almwiesen in ein buntes Blütenmeer.
Für Tierbeobachtungen braucht's mitunter Geduld und ein scharfes Auge. Steinböcke klettern elegant über die steilsten Felswände, während Murmeltiere mit ihren schrillen Pfiffen vor potenziellen Gefahren warnen. Mit etwas Glück lassen sich auch Gämsen und der majestätische Steinadler beobachten. In den frühen Morgenstunden oder am späten Nachmittag sind die Chancen am besten, die scheuen Bewohner der Bergwelt zu Gesicht zu bekommen.
Ein besonderes ökologisches Kleinod ist das Hochmoor bei Schwändi. Hier haben sich seit der letzten Eiszeit seltene Pflanzenarten erhalten, darunter verschiedene Orchideen- und Sonnentauarten. Das Moor steht unter strengem Naturschutz – das Verlassen der markierten Wege ist streng verboten. Holzstege führen durch das empfindliche Ökosystem und ermöglichen dennoch einen guten Einblick in diese faszinierende Welt.
Der Klimawandel hinterlässt auch in der Tektonikarena deutliche Spuren. Die kleinen Gletscher ziehen sich zurück, freigelegte Gesteinsflächen werden allmählich von Pionierpflanzen besiedelt. Diese Veränderungsprozesse lassen sich besonders gut am Vorabgletscher beobachten, der seit Jahrzehnten kontinuierlich an Masse verliert.
Praktisches für die Reise – Unterkünfte, Anreise und beste Reisezeit
Die Tektonikarena Sardona lässt sich am besten zwischen Juni und Oktober erkunden. In dieser Zeit sind die meisten Wanderwege schneefrei und die Berghütten geöffnet. Wer die üppige Alpenflora erleben möchte, sollte im Juni oder Juli kommen. Für ausgedehnte Hochtouren empfehlen sich hingegen die stabileren Wetterverhältnisse im August und September.
Als Ausgangspunkt für Erkundungen eignen sich verschiedene Orte. Im Norden bietet sich Elm im Glarnerland an, im Süden sind Flims und Laax ideale Startpunkte. Wer es ruhiger mag, findet in kleineren Ortschaften wie Weisstannen oder Pfäfers authentischere Unterkünfte abseits des Massentourismus.
Die Anreise erfolgt am besten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Die Schweiz verfügt über ein hervorragendes Netz aus Zügen und Postautos, die auch entlegenere Täler zuverlässig anbinden. Von Zürich aus erreicht man Elm in knapp zwei Stunden, Flims in etwa anderthalb Stunden. Während der Sommermonate verkehren zusätzliche Wanderbusse, die speziell auf die Bedürfnisse von Wanderern zugeschnitten sind.
Unterkünfte gibt es in allen Preisklassen. Neben den bereits erwähnten Berghütten bieten zahlreiche Hotels und Pensionen in den umliegenden Dörfern Zimmer an. In der UNESCO-Arena selbst übernachtet man entweder in einer der bewirtschafteten Hütten oder unter freiem Himmel – Letzteres ist allerdings nur für erfahrene Bergsteiger zu empfehlen und nicht überall gestattet.
Die Sardonahütte auf 2157 Metern Höhe zählt zu den beliebtesten Unterkünften im Gebiet. Sie wird von der Sektion Piz Terri des Schweizer Alpen-Clubs betrieben und bietet einfache, aber gemütliche Schlafplätze. Wer hier übernachtet, wird mit einem atemberaubenden Sonnenaufgang über den Glarner Alpen belohnt. Das Abendessen in der Hütte ist deftig und reichhaltig – genau das Richtige nach einem anstrengenden Wandertag.
Zwischen Tradition und UNESCO-Status – Die lokale Kultur
Die Menschen in den Tälern rund um die Tektonikarena Sardona pflegen ein reiches kulturelles Erbe. Jahrhundertelang war die Landwirtschaft die wichtigste Einnahmequelle. Noch heute werden die Almen im Sommer bewirtschaftet, traditionelle Käseherstellung findet in einigen Sennereien nach wie vor statt. In Elm kannst du die Herstellung des würzigen Glarner Alpkäses aus nächster Nähe erleben – und natürlich auch probieren.
Der Bergbau prägte ebenfalls die Geschichte der Region. In Engi im Sernftal bestand bis ins 20. Jahrhundert ein bedeutendes Schieferbergwerk. Das dortige Schiefermuseum gibt Einblick in die harte Arbeit der Bergleute und die vielfältigen Verwendungsmöglichkeiten des dunklen Gesteins – vom Schreibtafel bis zur Dacheindeckung.
Seit der Ernennung zum UNESCO-Welterbe hat der Tourismus an Bedeutung gewonnen. Die Gemeinden versuchen, einen Mittelweg zwischen wirtschaftlicher Nutzung und Erhalt der natürlichen und kulturellen Schätze zu finden. Mehrere Besucherzentren, darunter das besonders empfehlenswerte "GeoPark-Informationszentrum" in Elm, vermitteln auf anschauliche Weise Wissen über die geologischen Besonderheiten und die kulturelle Entwicklung der Region.
Der Status als Welterbestätte hat das Selbstverständnis der Bewohner verändert. Was früher einfach "ihre Berge" waren, wird heute als Schatz von globaler Bedeutung wahrgenommen. Diese neue Perspektive spiegelt sich in zahlreichen lokalen Initiativen wider, die das geologische Erbe für Besucher zugänglich machen wollen. Geführte Wanderungen mit spezialisierten Geopark-Rangern bieten tiefe Einblicke in die Besonderheiten der Landschaft.
Die Tektonikarena mit allen Sinnen erleben
Ein Besuch der Tektonikarena Sardona ist mehr als nur eine Wanderung durch beeindruckende Berglandschaften. Es ist eine Reise durch Millionen von Jahren Erdgeschichte, die hier buchstäblich zum Greifen nah ist. Nimm dir Zeit, die unterschiedlichen Gesteine zu berühren, ihre verschiedenen Strukturen und Farben zu erkunden. Das raue, rötliche Verrucano fühlt sich gänzlich anders an als der glatte, graue Flysch.
Lausche dem Wasser, das hier seit Jahrmillionen an der Landschaft arbeitet. Ob als tosender Wasserfall oder als sanft murmelnder Bach – Wasser ist ein ständiger Begleiter in der Arena. Es hat maßgeblich zur Freilegung der geologischen Strukturen beigetragen und setzt seine Arbeit unermüdlich fort.
Die Tektonikarena fordert dich heraus, in anderen Zeitdimensionen zu denken. Was für uns Menschen eine unvorstellbar lange Zeit ist, bedeutet in geologischen Maßstäben nur einen Wimpernschlag. Hier kannst du die Spuren von Prozessen sehen, die sich über Millionen von Jahren erstreckten – ein demütigendes und zugleich befreiendes Gefühl.
Eine Nacht unter dem Sternenhimmel der Sardona gehört zu den eindrucksvollsten Erlebnissen, die diese Region zu bieten hat. Fern von künstlichen Lichtquellen offenbart sich eine Sternenvielfalt, wie sie in Europa immer seltener zu finden ist. Der Gedanke, dass das Licht einiger dieser Sterne noch länger unterwegs war als die Alpen alt sind, rundet das Erlebnis der geologischen Zeitreise ab.