Schon die Anfahrt ins Tessin verrät: Hier ist etwas anders. Hinter dem Gotthard-Tunnel weicht die alpine Landschaft plötzlich südländischer Vegetation. Kastanienbäume säumen die Straßen, an Hauswänden ranken Weinreben empor. In Locarno und Ascona, den beiden Perlen am Nordufer des Lago Maggiore, erreicht diese Transformation ihren Höhepunkt. Hier wachsen Palmen im Schatten schneebedeckter Viertausender.
Das milde Klima verdanken die beiden Städte ihrer geschützten Lage am Seeufer. Der Lago Maggiore wirkt als gigantischer Wärmespeicher und sorgt dafür, dass selbst im Winter die Temperaturen selten unter den Gefrierpunkt fallen. Mediterrane Pflanzen fühlen sich wohl, Zitronenbäume tragen Früchte bis in den November hinein. Diese klimatische Begünstigung hat schon vor Jahrhunderten Adelige und Künstler angelockt – eine Tradition, die bis heute anhält.
Locarno: Filmstadt mit Festivalglanz
Wer im August nach Locarno kommt, erlebt die Stadt in ihrem Element. Dann verwandelt sich die Piazza Grande in ein riesiges Open-Air-Kino, 8000 Menschen schauen gemeinsam Filme unter freiem Himmel. Das Locarno Film Festival, eines der ältesten Filmfestivals der Welt, prägt seit 1946 das Stadtbild. Doch auch außerhalb der Festivalzeit bleibt Locarno eine charmante Mischung aus Schweizer Ordnung und italienischer Leichtigkeit.
Die Altstadt gruppiert sich um eben diese Piazza Grande, den wohl schönsten Platz der Schweiz. Arkadengänge aus dem 15. Jahrhundert umrahmen das rechteckige Areal, in dem sich heute Cafés und Restaurants breitmachen. Früh am Morgen, wenn der Nebel noch über dem See hängt und die ersten Sonnenstrahlen die ocker-gelben Fassaden treffen, entfaltet der Platz seine ganze Magie. Später am Tag sorgen die Arkaden für wohltuenden Schatten – clever geplant von den mittelalterlichen Bauherren.
Nur wenige Schritte von der Piazza entfernt erhebt sich das Castello Visconteo, eine mächtige Festung aus dem 14. Jahrhundert. Die Visconti, einst Herren über weite Teile Norditaliens, hinterließen hier ein beeindruckendes Bollwerk. Im Inneren dokumentiert das Archäologische Museum die wechselvolle Geschichte der Region – von römischen Funden bis zu mittelalterlichen Kunstwerken. Besonders sehenswert sind die romanischen Glasfenster aus dem 15. Jahrhundert, echte Kostbarkeiten mittelalterlicher Handwerkskunst.
Ein Spaziergang durch Locarno führt fast zwangsläufig zur Seilbahn-Station. Von hier geht's hinauf nach Cardada-Cimetta, dem Hausberg der Stadt. Die Fahrt dauert keine zehn Minuten, doch der Höhenunterschied von über 1000 Metern ist beeindruckend. Oben angekommen, eröffnet sich ein Panorama, das seinesgleichen sucht: Der komplette Lago Maggiore liegt zu Füßen, dahinter erheben sich die Gipfel der italienischen Alpen. An klaren Tagen reicht der Blick bis zum Monte Rosa. Mutige können den Skywalk ausprobieren – eine gläserne Aussichtsplattform, die über den Abgrund hinausragt. Nichts für schwache Nerven, aber der Adrenalinstoß lohnt sich.
Madonna del Sasso: Wallfahrtsort mit Weitblick
Hoch über Locarno thront die Wallfahrtskirche Madonna del Sasso, erreichbar zu Fuß über einen steilen Kreuzweg oder bequem mit der Standseilbahn. Der Legende nach erschien hier 1480 der Mönch Bartolomeo d'Ivrea die Jungfrau Maria – Grund genug für die Errichtung einer Kapelle, die sich über die Jahrhunderte zur heutigen Anlage entwickelte.
Die Kirche selbst besticht durch ihre schlichte Eleganz. Besonders eindrucksvoll ist das Fresko "Die Flucht nach Ägypten" von Antonio Ciseri aus dem 19. Jahrhundert. Doch mindestens ebenso reizvoll wie die Kunst ist die Aussicht von der Kirchenterrasse. Locarno breitet sich wie ein Modell in der Tiefe aus, der Lago Maggiore schimmert in der Sonne. Viele Besucher kommen eigens wegen dieses Panoramas hierher – und werden selten enttäuscht.
Der Abstieg zu Fuß durch die Via Crucis lohnt sich. Die 14 Stationen des Kreuzwegs sind künstlerisch wertvoll gestaltet, der schattige Pfad durch Kastanienwälder führt gemächlich bergab. Unterwegs bieten sich immer wieder Ausblicke auf Stadt und See – eine kontemplative Art, Locarno zu entdecken.
Ascona: Künstlerkolonie am Seeufer
Nur acht Kilometer von Locarno entfernt liegt Ascona, das sich völlig anders präsentiert als die große Schwester. Wo Locarno urban und geschäftig wirkt, geht es in Ascona gemächlicher zu. Die autofreie Seepromenade lädt zum Flanieren ein, bunte Häuserfassaden spiegeln sich im Wasser des Lago Maggiore. Hier herrscht italienisches Flair pur – kein Zufall, denn bis 1512 gehörte Ascona tatsächlich zu Italien.
Das Herzstück Asconas ist zweifellos die Promenade mit ihren charakteristischen mehrstöckigen Häusern. Pastellfarben dominieren: Ockergelb, Terrakotta, zartes Rosa und Himmelblau. In den ebenerdigen Arkaden reihen sich Restaurants, Cafés und Boutiquen aneinander. Besonders stimmungsvoll wird es am späten Nachmittag, wenn die tiefstehende Sonne die Fassaden in warmes Licht taucht und sich die Farben im ruhigen Seewasser spiegeln.
Ascona war schon früh ein Magnet für Künstler und Intellektuelle. Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich hier eine lebendige Bohème-Szene. Hermann Hesse verbrachte hier seine letzten Lebensjahre, der Maler Paul Klee fand Inspiration am Seeufer. Heute erinnert das Museum Casa Anatta an diese kreative Epoche. Das ehemalige Hotel, in dem einst Künstler, Philosophen und Anarchisten verkehrten, dokumentiert die unkonventionelle Geschichte Asconas als alternatives Zentrum Europas.
Oberhalb der Seepromenade erstreckt sich die Altstadt mit ihren verwinkelten Gassen und versteckten Innenhöfen. Hier lohnt es sich, einfach zu bummeln und die Details zu entdecken: kunstvolle Eisengitter, blumengeschmückte Balkone, kleine Läden mit regionalem Kunsthandwerk. Die Collegiata dei Santi Pietro e Paolo, die Hauptkirche Asconas, beherbergt einen der schönsten Renaissancealtäre der Schweiz. Weniger bekannt, aber nicht minder reizvoll ist die kleine Chiesa Santa Maria della Misericordia mit ihren gut erhaltenen Fresken aus dem 15. Jahrhundert.
Inseln der Ruhe
Vor Ascona liegen die Brissago-Inseln, zwei kleine Eilande, die per Schiff erreichbar sind. Die größere der beiden, Isola Grande, beherbergt einen botanischen Garten von Weltrang. Über 1700 Pflanzenarten aus dem gesamten Mittelmeerraum gedeihen hier auf engstem Raum. Bambus aus Asien wächst neben afrikanischen Sukkulenten, australische Eukalyptusbäume neben chilenischen Palmen. Möglich macht das wiederum das außergewöhnlich milde Mikroklima des Lago Maggiore.
Die Anlage des Gartens folgt keinem strengen Plan, sondern wirkt natürlich gewachsen. Verschlungene Pfade führen durch dichte Vegetation, immer wieder eröffnen sich Lichtungen mit Ausblicken auf den See. Besonders beeindruckend ist die Sammlung mediterraner Gehölze: Centuries-alte Zypressen, mächtige Zedern, duftende Lorbeerbäume. Ein Spaziergang über die Insel fühlt sich an wie eine botanische Weltreise.
Die Villa auf der Insel, einst Wohnsitz der exzentrischen Baronin Antoinette de Saint Léger, erzählt ihre eigene Geschichte. Die russische Aristokratin verwandelte das kahle Eiland ab 1885 in ein subtropisches Paradies. Heute beherbergt das Gebäude ein kleines Museum, das die Geschichte der Insel und ihrer bemerkenswerten Besitzerin dokumentiert.
Kulinarische Entdeckungen
Die Küche der Region verbindet das Beste zweier Welten: Schweizer Qualität trifft auf italienische Leidenschaft. Polenta in allen Variationen steht auf fast jeder Speisekarte, oft kombiniert mit Wild aus den umliegenden Wäldern oder Fisch aus dem See. Besonders zu empfehlen ist die Polenta concia, verfeinert mit lokalem Alpkäse – deftig und herzhaft, perfekt für kühle Abende.
Der Lago Maggiore liefert frischen Fisch: Felchen, Hecht und die kleinen Agoni, eine Sardellenart, die traditionell getrocknet und als Antipasto serviert wird. In den Restaurants am Seeufer brutzelt der Fang des Tages oft nur wenige Stunden nach dem Fang auf dem Grill. Dazu passt ein Glas Merlot del Ticino, der Rotwein der Region, der in den steilen Reblagen rund um Locarno gedeiht.
Süße Versuchungen warten in den Konditoreien: Amaretti di Saronno, mandelbasierte Kekse, sind ein Klassiker. Die Tessiner Variante ist oft etwas weicher als das italienische Original.
Märkte und Shopping
Donnerstags verwandelt sich Locarno in einen riesigen Marktplatz. Zwischen Bahnhof und Piazza Grande breiten Händler ihre Waren aus: frisches Obst und Gemüse aus der Region, Käse von Tessiner Alpen, italienische Spezialitäten. Der Markt ist mehr als nur Einkaufsgelegenheit – er ist sozialer Treffpunkt und Bühne für das lokale Leben. Hier mischt sich Italienisch mit Schweizerdeutsch, Einheimische schwatzen mit Touristen.
Besonders reizvoll sind die Stände mit regionalem Kunsthandwerk. Tessiner Steinmetze bieten Skulpturen aus lokalem Granit, Töpfer präsentieren Keramik in mediterranen Farben. Wer aufmerksam sucht, findet echte Schätze – oft zu überraschend fairen Preisen. Die Händler erzählen gerne die Geschichte ihrer Produkte, das gehört zum Markterlebnis dazu.
Asconas Einkaufsmeile liegt direkt an der Seepromenade. Kleine Boutiquen bieten italienische Mode, Kunstgalerien zeigen Werke regionaler Künstler. Hier geht es weniger um Schnäppchen als um besondere Stücke mit Geschichte. Viele Läden werden noch in Familientradition geführt, der persönliche Service ist entsprechend herzlich.
Naturerlebnisse rundherum
Das Verzascatal, nur eine halbe Stunde von Locarno entfernt, ist ein Paradies für Naturliebhaber. Der kristallklare Fluss Verzasca hat über Jahrtausende bizarre Felsformationen aus dem Gneis geschliffen. Smaragdgrüne Pools wechseln sich mit kleinen Wasserfällen ab – ein natürliches Schwimmbad, das an heißen Sommertagen für Abkühlung sorgt. Das Wasser ist allerdings selbst im Hochsommer ziemlich frisch, das sollte man wissen.
Wanderer finden hier Trails für jeden Geschmack. Der Sentiero della Verzasca folgt dem Flusslauf und bietet spektakuläre Ausblicke auf die Schluchten. Anspruchsvoller ist die Tour zum Pizzo di Vogorno, von dem sich ein grandioser Blick über das gesamte Tal eröffnet. Die Wege sind gut markiert, trotzdem sollte man sich nie ohne Karte auf den Weg machen – das alpine Gelände kann tückisch sein.
Centovalli, das "Tal der hundert Täler", erstreckt sich westlich von Locarno bis zur italienischen Grenze. Die Centovallibahn, eine schmalspurige Bahnlinie, verbindet Locarno mit dem italienischen Domodossola. Die Fahrt ist ein Erlebnis für sich: Über hohe Viadukte und durch tiefe Schluchten windet sich die Bahn durch eine Landschaft, die wie geschaffen scheint für Postkarten. Besonders im Herbst, wenn sich die Kastanienwälder bunt färben, ist die Strecke ein Augenschmaus.
Praktische Hinweise
Die beste Reisezeit für Locarno und Ascona liegt zwischen April und Oktober. Im Hochsommer kann es allerdings ziemlich heiß werden – Temperaturen über 30 Grad sind keine Seltenheit. Wer die Menschenmassen meiden möchte, reist am besten im Frühjahr oder Herbst. Der Oktober ist oft besonders schön: Die Sommerhitze ist vorbei, das Licht wird weicher, und die Touristenströme ebben ab.
Beide Städte sind gut mit öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar. Der Bahnhof Locarno liegt zentral, von dort sind es nur wenige Gehminuten zur Altstadt. Nach Ascona verkehren regelmäßig Busse, die Fahrt dauert etwa 15 Minuten. Innerhalb der Orte kommt man problemlos zu Fuß zurecht – die Zentren sind kompakt und fußgängerfreundlich gestaltet.
Hotels gibt es in allen Preisklassen, von luxuriösen Seehotels bis zu gemütlichen Pensionen. Besonders reizvoll sind die historischen Hotels direkt am Seeufer, die oft über eigene Strandbäder verfügen. Wer sparen möchte, findet in den Seitengassen durchaus erschwingliche Unterkünfte. Wichtig: In der Hochsaison unbedingt rechtzeitig reservieren, die Bettenkapazität ist begrenzt.
Ein letzter Tipp für Genießer: Die Region ist berühmt für ihre Grotti, rustikale Gasthäuser, die oft in ehemaligen Weinkellern untergebracht sind. Hier gibt's einfache, aber authentische Tessiner Küche in ungezwungener Atmosphäre. Viele Grotti liegen versteckt in den Hügeln rund um Locarno und Ascona – die Suche nach ihnen ist Teil des Abenteuers. Einfach den Einheimischen vertrauen und sich überraschen lassen.