Schweiz

Zermatt und der Mythos Matterhorn: Erstbesteigung, Alpinismus und Tourismus

Ein Berg wird zur Ikone, ein Dorf zum Wallfahrtsort. Das Matterhorn hat Zermatt auf die Weltkarte gesetzt - mit Drama, Tragödie und einer Portion Wahnsinn. Die Geschichte dahinter ist wilder als jeder Hollywood-Film.

Schweiz  |  Kultur & Geschichte
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Zwischenablage

Das Matterhorn ragt wie ein steinerner Zahn in den Himmel über Zermatt. Mit seinen 4.478 Metern ist es weder der höchste noch der schwierigste Gipfel der Alpen, trotzdem kennt es praktisch jedes Kind. Warum eigentlich? Die Antwort liegt in einer Mischung aus perfekter Optik, alpiner Dramatik und geschicktem Marketing, das bereits im 19. Jahrhundert begann.

Schon von weitem erkennt man die charakteristische Pyramidenform. Der Berg steht ziemlich allein da, was ihn noch imposanter macht. Bei klarem Wetter spiegelt sich sein Gipfel in den Bergseen rund um Zermatt - ein Fotomotiv, das millionenfach reproduziert wurde. Von der Toblerone-Schokolade bis zum Paramount-Logo: Das Matterhorn ist überall.

Geologisch gesehen ist der Berg ein Überbleibsel uralter Meeresböden, die vor Millionen von Jahren durch die Kollision der Kontinentalplatten nach oben gedrückt wurden. Die markante Spitze besteht hauptsächlich aus Gneis und Schiefer. Was beim Anblick fasziniert, macht das Klettern tückisch: Das Gestein bröckelt leicht, Steinschlag ist an der Tagesordnung.

Zermatt vor dem Hype

Bevor die ersten Bergsteiger auftauchten, war Zermatt ein verschlafenes Bergdorf am Ende des Mattertals. Die etwa 400 Einwohner lebten hauptsächlich von der Landwirtschaft und der Viehzucht. Im Winter waren sie praktisch von der Außenwelt abgeschnitten - die Straße ins Tal wurde erst 1891 gebaut.

Die Dorfbewohner nannten das Matterhorn übrigens nicht so. Für sie war es der "Hore" - ein alter Begriff für "Berg" oder "Spitze". Der Name Matterhorn kommt von den Matten, den Bergwiesen am Fuße des Berges. Ehrfurcht vor dem Gipfel hatten die Einheimischen durchaus, aber sie hielten ihn für unbesteigbar. Manche glaubten sogar, auf dem Gipfel hausten böse Geister.

Das änderte sich schlagartig, als Mitte des 19. Jahrhunderts die ersten englischen Alpinisten auftauchten. Diese "verrückten" Engländer wollten tatsächlich auf die Berge hinauf - nur so zum Spaß. Für die Zermattern war das zunächst schwer nachvollziehbar. Doch sie merkten schnell: Mit diesen seltsamen Touristen ließ sich Geld verdienen.

Die dramatische Erstbesteigung von 1865

Edward Whymper war besessen vom Matterhorn. Der englische Illustrator und Bergsteiger hatte bereits sieben erfolglose Versuche hinter sich, als er 1865 zu seinem achten Anlauf startete. Diesmal sollte es klappen - allerdings ganz anders als geplant.

Am 13. Juli 1865 machte sich Whympers Team auf den Weg. Mit dabei waren Charles Hudson, Lord Francis Douglas, Douglas Hadow sowie die Bergführer Michel Croz und die beiden Taugwalders, Vater und Sohn. Sieben Mann für einen Berg - heute würde man das als Massenauflauf bezeichnen. Damals war es ein Wettlauf gegen die Zeit, denn parallel versuchte eine italienische Seilschaft von der Südseite her den Gipfel zu erreichen.

Der Aufstieg verlief überraschend glatt. Um 13:40 Uhr standen sie auf dem Gipfel - als erste Menschen überhaupt. Die Euphorie war riesig, Whymper und Croz schwenkten ihre Hüte und jubelten. Die italienische Konkurrenz war noch weit unten und musste aufgeben. Ein Triumph auf ganzer Linie, könnte man meinen.

Doch beim Abstieg geschah die Katastrophe. Hadow, der unerfahrenste der Gruppe, rutschte aus. Er war mit Croz am Seil verbunden, riss diesen mit. Beide stürzten, zogen Hudson und Douglas nach. Das Seil zwischen Douglas und Old Peter Taugwalder riss - die vier Männer fielen 1.200 Meter in die Tiefe. Nur Whymper und die beiden Taugwalders überlebten.

Die Leichen von Croz, Hudson und Hadow wurden später geborgen und in Zermatt begraben. Lord Douglas' Körper fand man nie. Bis heute ist umstritten, ob das Seil von selbst riss oder durchtrennt wurde. Whymper beschuldigte die Taugwalders indirekt des Mordes, konnte es aber nie beweisen. Die Wahrheit wird wohl für immer im Eis des Matterhorns begraben bleiben.

Mythos und Medienrummel

Die tragische Erstbesteigung machte das Matterhorn schlagartig weltberührt. Die Zeitungen in ganz Europa berichteten ausführlich über das Drama. Plötzlich wollten alle diesen "Killerberg" sehen. Königin Victoria überlegte sogar, das Bergsteigen in den Alpen zu verbieten - so groß war die Aufregung.

Whymper schrieb später das Buch "Scrambles Amongst the Alps", das zum Bestseller wurde. Seine dramatischen Schilderungen, kombiniert mit den spektakulären Illustrationen des Matterhorns, heizten den Hype noch weiter an. Der Berg wurde zur Legende, Zermatt zum Pilgerziel für Abenteurer aus aller Welt.

Geschickt nutzten die Zermattern den neuen Ruhm. Sie bauten Hotels, gründeten Bergführervereine und vermarkteten ihr Dorf als "Matterhorn-Dorf". Schon 1891 wurde die erste Bergbahn eröffnet, 1898 folgte das luxuriöse Hotel Monte Rosa. Aus dem verschlafenen Bergdorf wurde ein mondäner Kurort.

Besonders clever war die Vermarktung der Tragödie selbst. Die Gräber der verunglückten Bergsteiger wurden zu Wallfahrtsorten, ihre Geschichte immer wieder erzählt und ausgeschmückt. Das Matterhorn wurde zum Symbol für den Kampf zwischen Mensch und Natur - ein Motiv, das bis heute funktioniert.

Goldgräberstimmung im Bergdorf

Nach der Erstbesteigung explodierte der Tourismus in Zermatt förmlich. Bereits in den 1870er Jahren kamen jährlich Tausende von Gästen, die meisten aus England. Die "Alpine Season" dauerte von Juni bis September, danach wurde der Ort praktisch wieder sich selbst überlassen.

Die Zermattern passten sich schnell an die neuen Gegebenheiten an. Aus Bauern wurden Hoteliers, aus Hirten Bergführer. Familien wie die Seilers, Perren oder Biner stiegen zu einflussreichen Tourismusunternehmern auf. Manche von ihnen sind bis heute wichtige Player im Zermatter Tourismus.

Interessant ist, wie geschickt die Dorfbewohner ihre "Authentizität" vermarkteten. Die traditionellen Holzhäuser wurden nicht etwa abgerissen, sondern als malerische Kulisse erhalten. Trachten und Volksbräuche, die schon fast verschwunden waren, wurden wiederbelebt und für die Touristen inszeniert. Zermatt wurde zu einer Art Freilichtmuseum seiner selbst.

Gleichzeitig investierte man massiv in die Infrastruktur. 1891 kam die Eisenbahn bis Zermatt, 1898 die erste Zahnradbahn auf den Gornergrat. Später folgten weitere Bergbahnen, Skilifts und schließlich das ausgedehnte Netz von Seilbahnen, das Zermatt heute zu einem der besterschlossenen Skigebiete der Welt macht.

Vom Sommerfrische-Ort zum Ganzjahres-Resort

Lange Zeit war Zermatt ein reiner Sommerort. Im Winter herrschte Totenstille, die Hotels waren geschlossen, viele Einwohner zogen temporär ins Tal. Das änderte sich erst in den 1920er Jahren, als das Skifahren populär wurde. Zermatt hatte dabei einen entscheidenden Vorteil: die Höhenlage und die Gletscher garantierten Schneesicherheit.

Der Durchbruch zum Wintersportort kam aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg. 1955 wurde die Seilbahn zum Klein Matterhorn eröffnet - damals die höchste Bergbahn Europas. Plötzlich konnte man auch im Sommer Skifahren, auf dem Theodulgletscher. Das war eine Sensation und lockte Skifahrer aus aller Welt an.

In den 1960er und 70er Jahren erlebte Zermatt einen regelrechten Bauboom. Hotelkomplexe, Apartmenthäuser und Chalets schossen wie Pilze aus dem Boden. Manche Architektur aus dieser Zeit ist heute etwas gewöhnungsbedürftig, aber sie zeigt, wie radikal sich der Ort gewandelt hat.

Ein Glücksfall war das frühe Autoverbot, das 1931 eingeführt wurde. Was damals vor allem dem Lärmschutz diente, erwies sich später als geniales Marketing-Instrument. Zermatt konnte sich als "autofreier Urlaubsort" positionieren - ein Alleinstellungsmerkmal, das heute Gold wert ist. Stattdessen fahren Elektrobusse und -taxis durch die Straßen, dazu kommen die traditionellen Pferdekutschen.

Alpinismus zwischen Sport und Spektakel

Das Matterhorn ist bis heute ein Magnet für Bergsteiger aus aller Welt. Pro Jahr versuchen etwa 3.000 Menschen den Aufstieg, ungefähr zwei Drittel schaffen es auch. Das klingt nach einer hohen Erfolgsquote, aber der Berg fordert immer noch seinen Tribut: Im Durchschnitt sterben jährlich 8-10 Menschen am Matterhorn.

Die meisten Unfälle passieren beim Abstieg oder durch Steinschlag. Viele Bergsteiger unterschätzen die technischen Schwierigkeiten - das Matterhorn ist kein einfacher Wanderberg, sondern erfordert echtes Kletterkönnen. Der normale Weg über den Hörnligrat ist zwar der einfachste, aber immer noch ein anspruchsvoller Alpingipfel.

Problematisch ist die Kommerzialisierung des Bergsteigens geworden. Viele "Gipfelsammler" buchen geführte Touren, ohne über die nötige Erfahrung zu verfügen. Das führt zu gefährlichen Situationen und Staus am Berg. An schönen Tagen kann es am Matterhorn richtig voll werden - ein Phänomen, das man früher nur vom Mount Everest kannte.

Die Zermattern reagierten pragmatisch auf diese Entwicklung. Sie bauten die Hörnlihütte aus, installierten feste Seile an kritischen Stellen und führten ein Reservierungssystem ein. Der Berg wird quasi "gemanagt" wie ein Skigebiet. Das mag puristischen Alpinisten nicht gefallen, reduziert aber die Unfallzahlen.

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