Im östlichen Frankreich, eingeklemmt zwischen den zerklüfteten Kalksteinfelsen des Vercors-Massivs, verbirgt sich ein natürliches Schauspiel der besonderen Art. Die Choranche-Höhlen (Grottes de Choranche) zählen zu den bemerkenswertesten Karsthöhlen Europas. Von außen deutet wenig auf die Wunderwelt hin, die sich hinter dem unscheinbaren Höhleneingang erstreckt. Erst der Gang ins Innere offenbart ein faszinierendes Netzwerk aus unterirdischen Sälen, Seen und atemberaubenden Tropfsteinformationen.
Die Höhlen liegen etwa 50 Kilometer südwestlich von Grenoble im Naturpark Vercors, einem Kalksteinmassiv der französischen Voralpen. Während oben das typische Landschaftsbild des Vercors dominiert – steile Felswände, tiefe Schluchten und dichte Wälder – hat darunter über Jahrmillionen das Wasser ein verzweigtes Höhlensystem erschaffen. Mit einer konstanten Temperatur von 10 Grad Celsius das ganze Jahr über bieten die Höhlen einen willkommenen Kontrast zu heißen Sommertagen oder frostigen Winterwochen.
Geologischer Entstehungsprozess: Ein Meisterwerk der Natur
Die Geschichte der Choranche-Höhlen begann vor rund 30 Millionen Jahren. Damals bedeckte noch ein warmes, tropisches Meer die Region. Als sich später die Alpen auffalteten, hob sich das Kalkgestein aus dem Meer empor. Regenwasser sickerte durch Risse und Spalten im Kalkstein und löste auf seinem Weg langsam das Gestein auf. Die chemische Gleichung dahinter ist einfach: Kohlendioxid aus der Luft verbindet sich mit Regenwasser zu Kohlensäure, die den Kalk angreift und auflöst. Wo früher massives Gestein war, entstanden über die Jahrtausende immer größere Hohlräume.
Der charakteristische Fluss Gournier, der durch Teile des Höhlensystems fließt, verstärkte diesen Prozess. Sein Wasser erweiterte die unterirdischen Gänge und schuf die heute sichtbaren Hallen und Kammern. Besonders beeindruckend: Der Fluss ist mancherorts unterirdisch verschwunden, um an anderer Stelle wieder aufzutauchen – ein typisches Merkmal von Karstgebieten.
Einzigartige Tropfsteinformationen: Makkaroni aus Kalk
Was die Choranche-Höhlen weltberühmt gemacht hat, sind ihre einzigartigen Stalaktiten. Anders als in vielen anderen Tropfsteinhöhlen sind die meisten Stalaktiten hier hauchdünn und durchscheinend – fast wie zerbrechliche Glasröhrchen. Die Einheimischen nennen sie wegen ihres Aussehens "fistuleuses" (Röhrenstalaktiten) oder scherzhaft "Spaghetti-Stalaktiten". Diese feinen Gebilde können bis zu drei Meter lang werden, haben aber oft nur einen Durchmesser von wenigen Millimetern. Ihr Entstehungsprozess ist eine Geduldsprobe der Natur: Für einen Zentimeter Wachstum benötigen die zarten Röhren etwa 100 Jahre.
Die Bildung dieser ungewöhnlichen Stalaktiten ist dem besonderen Chemismus des Wassers zu verdanken. In den Choranche-Höhlen ist das Wasser so kalkhaltig, dass sich im Inneren der wachsenden Stalaktiten ein Wasserkanal bildet. Durch diesen Kanal tropft überschüssiges Wasser nach unten, während sich an den Rändern Kalk ablagert. So entstehen über Jahrhunderte diese hohlen, extrem dünnen Röhren, die bei Lichteinfall fast transparent wirken. Ein falscher Atemzug, könnte man meinen, und die fragilen Gebilde zerbrechen – doch tatsächlich sind sie erstaunlich widerstandsfähig.
Neben den filigranen Röhrenstalaktiten finden sich in tieferen Bereichen der Höhle auch die klassischen, dickeren Tropfsteinformationen. Hier tropft das Wasser langsamer und unregelmäßiger, wodurch sich typische Stalaktiten (von der Decke wachsend) und Stalagmiten (vom Boden aufsteigend) bilden. An manchen Stellen sind beide bereits zusammengewachsen und bilden imposante Säulen, die Decke und Boden verbinden – stumme Zeugen eines Prozesses, der sich über Zehntausende von Jahren erstreckt hat.
Die unterirdischen Seen: Türkisblaue Juwelen im Dunkeln
Wer die Choranche-Höhlen durchquert, kommt an mehreren unterirdischen Seen vorbei, die zu den spektakulärsten Elementen der Höhle zählen. Besonders der "Lac Vert" (Grüner See) besticht mit seinem intensiven, fast unwirklichen Türkisblau. Die Farbenpracht entsteht durch die spezielle Mineralienzusammensetzung des Wassers in Kombination mit der Beleuchtung der Höhle. Kleinste Schwebepartikel im Wasser brechen das Licht und erzeugen diesen übernatürlich wirkenden Farbton.
Die Seen sind Teil eines komplexen unterirdischen Wassersystems. Bei starken Regenfällen im Vercors-Massiv kann der Wasserspiegel in Teilen der Höhle rapide ansteigen – manchmal um mehrere Meter innerhalb weniger Stunden. Dieses dynamische Verhalten des Wassers hat wesentlich zur Formung der Höhle beigetragen. Faszinierend dabei: Die Wasserbewegungen haben über die Jahrtausende nicht nur Gestein abgetragen, sondern auch die Wände poliert. An manchen Stellen glänzt der Fels wie glasiert.
Im tieferen, nicht öffentlich zugänglichen Teil des Höhlensystems existieren weitere Seen und sogar kleinere Wasserfälle. Diese Bereiche sind ausschließlich erfahrenen Höhlentauchern und Forschungsexpeditionen vorbehalten. Hydrogeologen nutzen die unterirdischen Gewässer von Choranche, um Wasserströmungen im Karst zu untersuchen und mehr über unterirdische Flussläufe zu erfahren. Mittels Färbetests haben sie herausgefunden, dass einige der Wasserquellen im Tal tatsächlich mit dem Höhlensystem verbunden sind.
Die Grottenolme: Geheimnisvolle Höhlenbewohner
Die Choranche-Höhlen beherbergen neben geologischen Wundern auch eine biologische Rarität: den Grottenolm (Proteus anguinus). Diese blassrosa bis weißlichen Amphibien leben ausschließlich in unterirdischen Gewässern und haben sich perfekt an die lichtlose Umgebung angepasst. Ihre Augen sind zurückgebildet, dafür sind ihre anderen Sinne außergewöhnlich geschärft. Mit einer Länge von etwa 25-30 Zentimetern gehören sie zu den größten Höhlentieren Europas.
Die Grottenolme in den Choranche-Höhlen stammen ursprünglich aus Slowenien und wurden in den 1980er Jahren eingesetzt, um die Wasserqualität zu überwachen – ähnlich wie Kanarienvögel früher in Bergwerken. Diese merkwürdigen Geschöpfe können über 100 Jahre alt werden und mehrere Jahre ohne Nahrung auskommen. Noch verblüffender: Sie atmen durch äußere Kiemen und durch ihre Haut und behalten zeitlebens ihre larvalen Merkmale bei.
Die Population in Choranche hat sich mittlerweile stabilisiert, und die Tiere haben sich gut an ihre neue Heimat angepasst. In einem speziell angelegten Becken können Besucher diese seltenen Lebewesen beobachten – allerdings nur mit viel Geduld und einem scharfen Auge, denn die scheuen Olme verstecken sich gern unter Steinen. Zudem reagieren sie empfindlich auf Erschütterungen und Lärm. Ein guter Grund mehr, sich in der Höhle respektvoll und leise zu verhalten.
Lichtinstallationen: Wenn Kunst und Natur verschmelzen
Seit den 1990er Jahren werden die natürlichen Wunder der Choranche-Höhlen durch ein durchdachtes Lichtkonzept in Szene gesetzt. Anders als in manch anderen Touristenhöhlen setzt man hier nicht auf grelle, bunte Beleuchtung, sondern auf subtile Akzente, die die natürliche Schönheit der Formationen unterstreichen. Die Installation wurde von Lichtdesignern entworfen, die normalerweise für Opernhäuser und Museen arbeiten.
Besonders eindrucksvoll ist die Licht- und Tonshow am "Lac Vert". Hier wird in regelmäßigen Abständen eine zehnminütige Vorführung geboten, bei der Lichteffekte, sanfte Musik und das natürliche Plätschern des Wassers ein atmosphärisches Gesamtkunstwerk schaffen. Die Reflexionen im Wasser vervielfachen die Lichtpunkte und erzeugen eine fast meditative Stimmung. Ein wohltuender Moment der Stille inmitten der Führung, den viele Besucher als Höhepunkt empfinden.
Die Beleuchtung folgt strengen ökologischen Richtlinien. LED-Technik reduziert die Wärmeentwicklung auf ein Minimum, was für den Erhalt des sensiblen Höhlenklimas entscheidend ist. Zudem wird das Licht nur während der Führungen eingeschaltet – der größte Teil der Zeit liegen die Höhlen weiterhin im Dunkeln, so wie es die Natur vorgesehen hat.
Praktische Informationen für den Besuch
Die Choranche-Höhlen sind ganzjährig geöffnet, wobei die Hauptsaison von April bis Oktober dauert. In dieser Zeit finden täglich zahlreiche Führungen statt. Von November bis März ist der Betrieb eingeschränkt – vorherige Erkundigung empfiehlt sich. Eine Standardführung dauert etwa eine Stunde und überwindet auf einer Strecke von rund einem Kilometer etwa 70 Höhenmeter. Der Weg ist gut ausgebaut und mit Handläufen versehen, sodass keine besondere körperliche Fitness erforderlich ist.
Die Eintrittspreise liegen bei etwa 12 Euro für Erwachsene und 8 Euro für Kinder (Stand 2024). Familienkarten und Gruppenrabatte werden angeboten. Für Fotografiebegeisterte wichtig: Das Fotografieren ist grundsätzlich erlaubt, jedoch ohne Blitz und Stativ, um die empfindliche Höhlenumgebung und die Tiere nicht zu stören.
In den Sommermonaten kann es zu längeren Wartezeiten kommen. Frühmorgendliche oder spätnachmittägliche Besuche sind dann empfehlenswert, um dem größten Andrang zu entgehen. Sprachlich spannt die Höhlenverwaltung einen weiten Bogen: Neben Französisch werden Führungen auf Deutsch, Englisch, Italienisch und Niederländisch angeboten – allerdings nicht zu jeder Tageszeit. Hier hilft ein Blick auf den aktuellen Führungsplan.
Auch für Rollstuhlfahrer und Personen mit eingeschränkter Mobilität ist ein Großteil der Höhle zugänglich. Der erste Teil des Rundgangs wurde barrierefrei gestaltet, sodass auch die spektakulären Röhrenstalaktiten und der Grüne See besichtigt werden können. Lediglich für den tieferen Teil der Höhle, der einige Stufen beinhaltet, ist eine gewisse Beweglichkeit erforderlich.
Die Umgebung: Der Naturpark Vercors
Die Choranche-Höhlen liegen mitten im Regionalen Naturpark Vercors, einer der beeindruckendsten Naturlandschaften der französischen Voralpen. Nach dem Höhlenbesuch lohnt sich daher ein längerer Aufenthalt in der Region. Die nahe gelegene Schlucht Gorges de la Bourne bietet spektakuläre Ausblicke auf eine dramatische Felslandschaft. Die in den Fels gehauene Straße durch die Schlucht ist ein Erlebnis für sich – nichts für schwache Nerven, aber ein Hochgenuss für Naturliebhaber.
Das mittelalterliche Dorf Pont-en-Royans, etwa zehn Kilometer von den Höhlen entfernt, ist für seine hängenden Häuser berühmt, die scheinbar schwerelos über dem Fluss Bourne thronen. Ein Besuch des örtlichen Wassermuseums (Musée de l'Eau) ergänzt thematisch perfekt den Höhlenbesuch, da es sich mit dem Wasserkreislauf und der Bedeutung des Wassers für die Region beschäftigt.
Wanderer und Mountainbiker finden im Vercors ein wahres Paradies. Das weitläufige Netz markierter Wege führt durch vielfältige Landschaften – von saftig grünen Almen über dichte Wälder bis zu kargen Hochplateaus. Besonders reizvoll ist die Kombination aus Höhlenbesuch und einer mehrstündigen Wanderung auf dem "Balcon Est du Vercors", einem Höhenweg mit atemberaubenden Ausblicken auf die Alpen.
Kulinarisch bietet die Region einige Spezialitäten, die man sich nicht entgehen lassen sollte. Der würzige Bleu du Vercors-Sassenage, ein milder Blauschimmelkäse, wird noch in kleinen Sennereien hergestellt. Dazu passt hervorragend ein Glas Clairette de Die, ein perlender Weißwein aus der nahen Drôme-Region. In den Restaurants der Umgebung findet man zudem hervorragende Wildgerichte – ein Echo auf die lange Jagdtradition im Vercors.