Frankreich

Vercors: Abgelegenes Hochplateau zwischen Schluchten und Wiesen

Im Schatten der Hochalpen erhebt sich ein massiver Kalksteinriegel mit verborgenen Schätzen. Hier haben Schluchten tiefe Narben in die Landschaft geschnitten und Dörfer trotzen seit Jahrhunderten der Einsamkeit.

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Zwischenablage

Das Vercors-Massiv erhebt sich wie eine natürliche Festung zwischen Grenoble und Valence in der französischen Region Auvergne-Rhône-Alpes. Mit seinen steilen Felswänden, die unvermittelt aus dem Tal aufragen, wirkt es auf den ersten Blick unnahbar. Wer aber den Mut hat, die schmalen Serpentinenstraßen hinaufzufahren oder durch eine der tiefen Schluchten einzudringen, wird mit einer überraschend sanften Hochebene belohnt, die so gar nicht zu den schroffen Außenmauern passen will.

Geologisch betrachtet ist das Vercors ein Kalkmassiv, das von tiefen Schluchten und Canyons durchzogen wird. Seine Höhe – zwischen 500 und 2.341 Metern auf dem Gipfel des Grand Veymont – macht es zu einem idealen Gebiet für moderate Wanderungen und Naturbeobachtungen. Der ungewöhnliche Kontrast zwischen den saftigen, weitläufigen Weiden oben und den dramatischen Felswänden am Rand sorgt für ein Landschaftsbild, das in den Alpen seinesgleichen sucht.

Der Naturpark Vercors, der seit 1970 besteht, umfasst 186.000 Hektar und schützt diese einzigartige Landschaft. Dutzende kleine Dörfer sind über das Plateau verstreut, viele davon kaum mehr als Ansammlungen von steinernen Häusern mit spitzen Dächern, die im Winter den schweren Schneelasten trotzen müssen. Heutzutage leben nur noch etwa 30.000 Menschen im Vercors – weniger als ein Drittel der Bevölkerung von vor hundert Jahren. Die Abgeschiedenheit hat ihren Preis, doch für den Besucher bedeutet sie Ruhe und authentische Begegnungen abseits vom Massentourismus.

Der Weg ist das Ziel – Spektakuläre Anfahrten

Eine Reise ins Vercors beginnt meist mit einer Fahrt, die selbst schon ein Erlebnis darstellt. Am beeindruckendsten: die Gorges de la Bourne. Diese enge Schlucht zwischen Pont-en-Royans und Villard-de-Lans wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts für den Verkehr erschlossen. Heute führt eine schmale Straße teils direkt in den Fels gehauen durch die Schlucht – nichts für schwache Nerven, aber ein landschaftliches Highlight. Wer die spektakuläre Strecke fährt, sollte unbedingt an einer der Ausweichbuchten halten, um die tosenden Wassermassen unter sich und die überhängenden Felsen zu bestaunen.

Eine weitere lohnenswerte Zufahrt ist die Route von Die im Süden über den Col de Rousset. Hier durchquert man einen kurzen Tunnel, und plötzlich öffnet sich wie durch Zauberhand die weite Hochebene. Der Kontrast zwischen der mediterranen Landschaft der Drôme-Region und dem alpinen Charakter des Vercors könnte nicht größer sein. Im Winter ist diese Strecke oft gesperrt – dann führt der Weg über Grenoble oder durch einen der anderen Pässe.

Im Norden sind die Gorges du Furon und die Cluse de Voreppe die klassischen Eingangstore zum Massiv. Der gesamte Außenrand des Vercors ist von solchen beeindruckenden Schluchten durchzogen, die französischen Geografen sprechen vom "Boulevard der Schluchten" – ein treffender Name für diese natürlichen Durchbrüche durch den Kalkstein.

Die Geschichte des Widerstands – Als die Berge Zuflucht boten

Die abgeschiedene Lage und schwere Zugänglichkeit des Vercors prädestinierten das Gebiet während des Zweiten Weltkriegs zum Rückzugsort für die französische Résistance. Im Sommer 1944 wurde hier sogar eine "Republik" ausgerufen – ein freies Gebiet mitten im besetzten Frankreich. Doch die Freiheit sollte nicht lange währen. Im Juli 1944 umstellten deutsche Truppen das Plateau und begannen eine brutale Offensive. Fallschirmjäger landeten direkt auf dem Hochplateau, während andere Einheiten durch die wenigen Zugänge vorrückten.

Die Geschichte dieser tragischen Ereignisse wird im Memorial de la Résistance in Vassieux-en-Vercors eindrucksvoll dargestellt. Der Bau selbst – halb in den Fels gehauen – symbolisiert den Geist des Widerstands. Für den Besucher ist es ein Ort, der nachdenklich stimmt. Die moderne Ausstellung zeigt Fotos, Dokumente und persönliche Gegenstände der Widerstandskämpfer. Besonders beklemmend: die rekonstruierte Höhle, in der sich Résistance-Mitglieder versteckten. Das klamme Gefühl und der begrenzte Raum geben eine Ahnung von den Strapazen damals.

Die Spuren dieser Zeit sind überall im Vercors zu finden: Gedenksteine an Straßenrändern, kleine Museen in Dorfzentren und stille Friedhöfe mit zu vielen Gräbern vom Sommer 1944. In Vassieux-en-Vercors wurden während der "Operation Bettina" fast alle Gebäude zerstört und ein großer Teil der Zivilbevölkerung ermordet. Der Ort trägt bis heute den Ehrentitel "Village martyr" – Märtyrerdorf.

Natur pur – Flora und Fauna des Kalkplateaus

Das Vercors beherbergt eine beeindruckende biologische Vielfalt. Der Höhenunterschied – von den Tälern bis zu den Gipfeln sind es knapp 2.000 Meter – sorgt für verschiedene Vegetationszonen. Während in den tieferen Lagen dichte Wälder vorherrschen, dominieren auf dem Plateau weite Alpenwiesen. Im Frühsommer explodieren diese in einem Meer aus Wildblumen: Orchideen, Enzian, Anemonen und die charakteristischen gelben Trollblumen.

Für Tierbeobachter ist das Vercors ein wahres Paradies. Mit etwas Glück kannst du Gämsen an den Felswänden klettern sehen oder Murmeltiere beobachten, die bei deiner Annäherung mit ihrem charakteristischen Pfiff Alarm schlagen. Der Steinadler zieht majestätisch seine Kreise über dem Plateau, und in den abgelegenen Wäldern leben sogar wieder Wölfe – wenn auch äußerst scheu und selten zu Gesicht zu bekommen.

Ein besonderes Naturphänomen sind die Karstformationen. Der Kalkstein wird seit Jahrtausenden vom Wasser ausgewaschen und hat bizarre Landschaften geschaffen. Typisch sind trichterförmige Einsenkungen, sogenannte Dolinen, und unterirdische Höhlensysteme. Die Grotte de Choranche mit ihren hauchdünnen "Makkaroni"-Stalaktiten gehört zu den spektakulärsten Höhlen und ist für Besucher zugänglich. Die Führung durch die feuchten, kühlen Gänge dauert etwa eine Stunde und bietet einen faszinierenden Einblick in die verborgene Welt unter der Oberfläche. Auch die Cuves de Sassenage und die Grotte de la Luire lohnen einen Besuch.

Das Leben in den Bergen – Dörfer und Kultur des Vercors

Die Siedlungen im Vercors haben sich dem rauen Klima angepasst. Besonders charakteristisch sind die massiven Steinhäuser mit ihren steil abfallenden Dächern. Im Winter können hier mehrere Meter Schnee fallen, und die Architektur musste dem standhalten. In den Dörfern fallen die überdachten Marktplätze auf, oft noch aus dem Mittelalter stammend. Dort konnte der Markt auch bei schlechtem Wetter stattfinden – überlebenswichtig in früheren Zeiten.

Das größte "Städtchen" im Vercors ist Villard-de-Lans mit etwa 4.000 Einwohnern. Es hat sich zum kleinen Tourismuszentrum entwickelt, mit einigen Hotels, Restaurants und Geschäften. Lèche Vinaigre nennen die Einheimischen das Dorf scherzhaft – "Essigschlecker" –, ein Spitzname, der auf den etwas säuerlichen Charakter des lokalen Weins zurückgeht. Trotz seiner Größe hat sich Villard seinen Charme bewahrt. Der zentrale Platz mit seinem Brunnen und den umliegenden Cafés lädt zum Verweilen ein.

Deutlich ursprünglicher präsentieren sich Dörfer wie Saint-Martin-en-Vercors oder Saint-Julien-en-Vercors im Zentrum des Plateaus. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Alte Männer spielen Boule unter Platanen, während im Café des Dorfplatzes die neuesten Nachrichten ausgetauscht werden. Für den Besucher bieten diese Orte eine willkommene Entschleunigung – und manchmal auch überraschende Begegnungen mit den Einheimischen, die gerne über "ihre" Berge plaudern.

Die Kultur des Vercors ist stark von der Landwirtschaft geprägt. Seit Jahrhunderten leben die Menschen hier von der Viehzucht und der Käseherstellung. Der Bleu du Vercors-Sassenage, ein milder Blauschimmelkäse, ist die bekannteste lokale Spezialität und trägt seit 1998 das AOC-Siegel. Er wird traditionell aus der Milch der Villard-de-Lans-Rinder hergestellt, einer alten Bergrinderrasse. In mehreren Käsereien kann man den Herstellungsprozess beobachten und den fertigen Käse verkosten. Eine Geschmacksexplosion, die auf der Zunge mit einer leichten Schärfe beginnt und dann in eine cremige Milde übergeht – unbedingt probieren!

Aktiv im Vercors – Zwischen Himmel und Erde

Das Vercors bietet ideale Bedingungen für Outdoor-Aktivitäten aller Art. Die sanft geschwungenen Hochebenen sind ein Wanderparadies für alle Schwierigkeitsgrade. Der GR 91 durchquert das gesamte Massiv von Nord nach Süd und bietet unterwegs atemberaubende Ausblicke. Für ambitionierte Bergsteiger sind die steilen Ostwände eine Herausforderung. Die Route auf den Grand Veymont, den höchsten Gipfel, ist bei gutem Wetter auch für geübte Wanderer machbar und belohnt mit einem Panoramablick bis zum Mont Blanc.

Im Winter verwandelt sich das Vercors in ein Schneeparadies. Villard-de-Lans und Corrençon-en-Vercors bilden zusammen das größte Skigebiet mit modernen Liften und präparierten Pisten für alle Könnensstufen. Doch das eigentliche Highlight für viele ist der Langlauf. Über 500 Kilometer gespurte Loipen durchziehen das Plateau und verbinden die verstreuten Dörfer. Das "moucherotte" genannte Netz an Loipen gilt als eines der besten Frankreichs. Wenn der Schnee glitzert und die einzigen Geräusche das gleichmäßige Gleiten der Ski und das eigene Atmen sind, erlebt man das Vercors von seiner intimsten Seite.

In den letzten Jahren hat sich das Vercors auch zum Mountainbike-Revier entwickelt. Die Mischung aus Forstwegen, alten Militärstraßen und modernen Trails bietet für jeden Geschmack etwas. Besonders beliebt: die Strecke von Font d'Urle nach Die, bei der man über 1.000 Höhenmeter bergab zurücklegt – ein Adrenalinrausch mit grandioser Aussicht.

Wer es noch extremer mag, findet im Vercors ideale Bedingungen zum Gleitschirmfliegen oder Klettern. Die Felswände des Massivs bieten Routen aller Schwierigkeitsgrade. Die Region um Presles gilt als eines der besten Klettergebiete Frankreichs. Der Kontrast zwischen der anstrengenden Kletterei und dem weiten Blick über die sanften Plateaus ist ein Erlebnis der besonderen Art.

Besuchertipps – Wann und wie ins Vercors reisen

Die beste Reisezeit für das Vercors hängt stark von deinen Plänen ab. Für Wanderungen und Naturbeobachtungen sind die Monate Mai bis September ideal. Im Juni explodieren die Bergwiesen in einem Blütenmeer, während September und Oktober mit ihren klaren Tagen und der Herbstfärbung bestechen. Im Hochsommer kann es auf dem Plateau angenehm kühl sein, wenn unten im Tal drückende Hitze herrscht – ein willkommener Klimawechsel.

Die Wintersaison dauert in der Regel von Dezember bis März, wobei der meiste Schnee meist im Januar und Februar fällt. Für Langläufer ist das Vercors ein Geheimtipp, da es weniger überlaufen ist als viele der bekannteren Skigebiete in den Hochalpen.

Anreisen kann man am besten mit dem Auto, da die öffentlichen Verkehrsverbindungen begrenzt sind. Von Grenoble oder Valence führen gut ausgebaute Straßen in die Region. Wer mit dem Zug anreist, kann in Grenoble Busse nehmen, die einige der größeren Orte im Vercors anfahren – allerdings mit eingeschränktem Fahrplan.

Übernachtungsmöglichkeiten gibt es für jeden Geschmack: von einfachen Berghütten (Refuges) über familiäre Pensionen (Chambres d'hôtes) bis hin zu komfortablen Hotels. Das "Hôtel du Vercors" in La Chapelle bietet ein gutes Preis-Leistungs-Verhältnis und liegt zentral für Erkundungen. Wer es ursprünglicher mag, kann in einer der zahlreichen "Gîtes d'étape" übernachten – einfache Unterkünfte entlang der Wanderwege, in denen man oft Gleichgesinnte trifft und Erfahrungen austauschen kann.

Eine Besonderheit des Vercors sind die "Fermes auberges" – Bauernhöfe, die Zimmer vermieten und Mahlzeiten aus eigener Produktion anbieten. Die "Ferme du Pré" bei Méaudre bietet nicht nur gemütliche Zimmer in einem alten Bauernhaus, sondern auch die Möglichkeit, beim Käsemachen zuzuschauen oder bei der Heuernte zu helfen – ein authentisches Erlebnis, das Einblicke in das harte, aber erfüllende Leben der Bergbauern gibt.

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