Zwischen dem Schweizer Kanton Wallis und dem italienischen Piemont erhebt sich der Simplonpass – eine der bedeutendsten Nord-Süd-Verbindungen durch die Alpen. Auf 2.005 Metern Höhe gelegen, unterscheidet sich dieser Pass deutlich von seinen höheren und spektakuläreren Geschwistern in den Walliser Alpen. Nicht seine Höhe macht den Simplon besonders, sondern seine Geschichte und strategische Bedeutung, die bis in die Römerzeit zurückreicht. Die vergleichsweise moderate Höhenlage machte ihn früher zu einem der wenigen Alpenübergänge, die auch im Winter passierbar blieben – wenn auch unter erheblichen Gefahren.
Bereits im 13. Jahrhundert existierte hier ein Saumpfad, auf dem Händler ihre Waren transportierten. Besondere Bedeutung erlangte der Pass jedoch unter Napoleon Bonaparte, der hier zwischen 1801 und 1805 eine der ersten modernen Alpenstraßen errichten ließ. Als militärstrategisches Meisterwerk konzipiert, sollte die Passstraße den schnellen Transport von Truppen und Kanonen nach Italien ermöglichen. Die napoleonische Straße folgte dabei einer für die damalige Zeit revolutionären Bauweise: Statt über steile Rampen direkt zum Pass hochzuführen, wand sie sich in gleichmäßigen Serpentinen mit maximal 7% Steigung die Berghänge hinauf – damals ein beispielloser Komfort für Kutschen und schwere Transporte.
Heute verbindet die gut ausgebaute Nationalstraße N9 (auf italienischer Seite SS33) Brig im Wallis mit Domodossola im Piemont. Die Fahrt über den Pass bereitet dem Reisenden ein Wechselspiel aus engen Galerien, beeindruckenden Kunstbauten und atemberaubenden Ausblicken auf die umliegenden Viertausender. Anders als bei anderen Alpenpässen führt die Route nicht über kahle Höhen, sondern durch grüne Täler und dichte Wälder, was dem Simplonpass seinen besonderen landschaftlichen Reiz verleiht.
Von Rittern und Hospizen – Kulturelle Etappen am Wegesrand
Wer den Simplon überquert, begegnet auf Schritt und Tritt Zeugnissen seiner bewegten Geschichte. Geradezu symbolhaft für die Strapazen früherer Alpenüberquerungen steht das Simplonhospiz, das wie ein massives Bollwerk gegen Schnee und Kälte auf der Passhöhe thront. Seine Geschichte reicht bis ins frühe Mittelalter zurück, als hier schon eine einfache Unterkunft für erschöpfte Reisende existierte. Das heutige Gebäude entstand auf Anordnung Napoleons und wurde nach seinem Fall von Augustiner-Chorherren des Großen St. Bernhard übernommen. Bis heute bieten die Mönche Reisenden eine einfache Bleibe – wobei zur Übernachtung eine rechtzeitige Anmeldung notwendig ist. Die schlichte Kapelle des Hospizes lädt zur inneren Einkehr ein, während die dicken Mauern von den extremen Witterungsbedingungen zeugen, die hier oben herrschen können. Besonders beeindruckend: Im Hospiz werden historische Dokumente und Gegenstände aufbewahrt, die von den Strapazen und Abenteuern vergangener Alpenreisender erzählen.
Deutlich älter noch ist der Stockalperweg, benannt nach Kaspar Stockalper, dem "König des Simplons". Der Briger Handelsherr hatte im 17. Jahrhundert faktisch das Monopol auf den Warentransport über den Pass und ließ den alten Saumweg ausbauen. Teile dieses historischen Pfades sind heute als Wanderweg erhalten und führen abseits der Hauptstraße durch unberührte Natur und vorbei an verfallenen Susten (Warenlager) und alten Wegkapellen. Nicht umsonst gilt diese Route als eine der schönsten historischen Wanderstrecken der Schweiz, auf der man buchstäblich in die Fußstapfen mittelalterlicher Säumer treten kann.
Knapp unterhalb der Passhöhe, am sogenannten Alten Spittel, steht noch die Ruine eines weiteren mittelalterlichen Hospizes. Hier rasteten bereits im 13. Jahrhundert Reisende, bevor sie den letzten Anstieg in Angriff nahmen. Die verwitterten Mauern bilden einen fast gespenstischen Kontrast zur umliegenden alpinen Landschaft – und manchmal, wenn abends der Nebel aufzieht, scheint es, als würden die Geister vergangener Reisender hier noch immer umherirren.
Napoleon und der Simplon – Eine Straße für die Ewigkeit
Die heutige Passstraße folgt im Wesentlichen noch immer der Trasse, die Napoleons Ingenieure zu Beginn des 19. Jahrhunderts festlegten. Dabei gilt sie als technische Meisterleistung ihrer Zeit. Mehr als 5.000 Arbeiter waren über vier Jahre damit beschäftigt, die 63 Kilometer lange Verbindung zwischen Brig und Domodossola zu schaffen. Anders als bei früheren Passstraßen standen nicht mehr schnörkelige Kehren im Vordergrund, sondern eine gleichmäßige Steigung, die auch schweren Fuhrwerken und Artilleriegeschützen den Weg über die Alpen ermöglichen sollte.
Entlang der Route entstanden zahlreiche Schutzgalerien gegen Lawinen und Steinschlag – ein Konzept, das damals revolutionär war und heute noch bei modernen Alpenstraßen Anwendung findet. Eindrucksvollstes Beispiel dafür ist die Gondoschlucht auf der Südrampe, wo sich die Straße durch eine enge Klamm zwängt und teilweise direkt in den Fels gehauen wurde.
Napoleon selbst hat den fertigen Simplonpass übrigens nie gesehen. Als die Bauarbeiten 1805 abgeschlossen waren, hatte sich sein politisches Interesse bereits anderen Regionen Europas zugewandt. Dennoch trägt die Straße unverkennbar seine Handschrift: Breit genug für zwei sich begegnende Fuhrwerke und mit einer für damalige Verhältnisse luxuriösen Maximalsteigung von 7% wurde sie zum Vorbild für den gesamten europäischen Straßenbau des 19. Jahrhunderts.
Wer heute über den Pass fährt, kann an mehreren Aussichtspunkten die historische Dimension dieser Route auf sich wirken lassen. Besonders eindrucksvoll ist der Blick vom Belvedere-Aussichtspunkt auf die alte napoleonische Straßenführung mit ihren charakteristischen Kehren und Stützmauern. Ganz in der Nähe erinnert ein unscheinbarer Gedenkstein an einen anderen berühmten Besucher: Im Jahr 1800 überquerte General Suworow mit seiner russischen Armee unter widrigsten Bedingungen den Simplon – ein Marsch, der in die Militärgeschichte einging und den Schweizern nachhaltigen Respekt vor der Zähigkeit russischer Soldaten einflößte.
Gondo – Das Goldgräberdorf am Abgrund
Nur wenige Kilometer vor der italienischen Grenze liegt Gondo, ein Dorf, das wie kaum ein anderer Ort am Simplon von den Extremen der Alpenlandschaft gezeichnet ist. Zwischen steil aufragenden Felswänden eingeklemmt, wirkt die kleine Siedlung wie ein trotziger Außenposten der Zivilisation. Dominiert wird das Ortsbild vom Stockalperturm, einem massiven Steinbau aus dem 17. Jahrhundert, der einst als Raststation und Warenlager für Handelskarawanen diente. Mit seinen dicken Mauern und schmalen Fenstern verkörpert er den Kampf gegen die rauen Naturgewalten, die hier herrschen.
Gondo schrieb mehrfach tragische Schlagzeilen. Im Jahr 2000 forderte ein verheerender Erdrutsch 13 Menschenleben und zerstörte einen beträchtlichen Teil des Dorfes. Die Naturkatastrophe hat tiefe Narben hinterlassen – sowohl in der Landschaft als auch in den Seelen der Bewohner. Doch der Ort hat sich mit typisch schweizerischer Beharrlichkeit wieder aufgerappelt. Ein schlichtes Mahnmal erinnert heute an die Opfer, während daneben der Wiederaufbau des Dorfes mit moderner Architektur vollzogen wurde, die sich bewusst von der historischen Bauweise absetzt.
Weniger bekannt ist, dass Gondo einst ein bedeutendes Zentrum des Goldabbaus war. In den Seitentälern, besonders im Zwischbergental, wurde seit dem Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert hinein Gold geschürft. Zwar nie in großen Mengen, doch die Qualität des Gondoer Goldes galt als außergewöhnlich. Heute kann man auf dem "Goldminen-Weg" den Spuren der einstigen Goldgräber folgen – ein faszinierender Wanderpfad, der durch eine einsame, wilde Landschaft führt und an verlassenen Stollen und verfallenen Bergwerksgebäuden vorbeiführt. Ab und zu blitzt in den Bächen tatsächlich noch ein Goldflitter auf, und mit etwas Geduld und Geschick kann man beim Goldwaschen selbst zum Glücksritter werden. Im Stockalperturm, der heute als Museum dient, werden Werkzeuge und Fundstücke aus dieser Zeit ausgestellt.
Gondos Lage als Grenzort prägte seit jeher sein Schicksal. Schmuggel war lange Zeit ein einträgliches, wenn auch riskantes Nebengewerbe vieler Einheimischer. In der Nachkriegszeit entwickelte sich der Ort zu einem beliebten Tankstopp – Schweizer Autofahrer nutzen bis heute die günstigeren italienischen Spritpreise, während Italiener hier zollfreie Zigaretten erwerben können. Diese Grenzökonomie sorgt für ein geschäftiges Treiben, das in deutlichem Kontrast zur ansonsten stillen, fast melancholischen Atmosphäre des Ortes steht.
Zwischen zwei Welten – Die kulturelle Brückenfunktion des Simplonpasses
Wie alle großen Alpenpässe war auch der Simplon stets mehr als nur ein Verkehrsweg – er fungierte als kulturelle Brücke zwischen Nord und Süd. Die Spuren dieser Vermittlerrolle sind bis heute in der Region spürbar. In den Dörfern entlang der Passroute mischen sich alpine und mediterrane Einflüsse auf faszinierende Weise. Die Architektur zeigt deutliche italienische Anklänge, während die Mentalität der Bewohner unverkennbar schweizerisch geprägt bleibt.
Besonders augenfällig wird diese kulturelle Mischung in der Küche. In den Gasthäusern rund um den Simplon findet man sowohl deftige Walliser Spezialitäten wie Raclette und Trockenfleisch als auch italienisch inspirierte Gerichte. Das Restaurant "Zur alten Kaserne" in Simplon-Dorf serviert beispielsweise eine bemerkenswerte Fusion beider Traditionen: Polenta mit Walliser Bergkäse überbacken – ein Gericht, das sinnbildlich für die kulinarische Grenzlage steht.
Auch sprachlich bildet der Simplonpass eine Übergangszone. Während auf der Nordseite noch Deutsch bzw. der charakteristische Walliser Dialekt gesprochen wird, dominiert jenseits des Passes das Italienische. In Gondo selbst hört man beide Sprachen, wobei viele Einheimische mühelos zwischen ihnen wechseln. Diese Mehrsprachigkeit ist nicht bloß praktischer Natur – sie spiegelt eine Offenheit wider, die für Grenzregionen typisch ist.
Die religiösen Traditionen beiderseits des Passes zeugen ebenfalls von jahrhundertelangem kulturellen Austausch. Entlang der alten Simplonroute reihen sich kleine Wegkapellen wie Perlen auf einer Schnur – errichtet als Schutz und Trost für Reisende, die den gefährlichen Übergang wagten. Viele dieser Kapellen schmücken Fresken italienischer Künstler, während die Heiligenverehrung deutlich vom nördlichen Katholizismus geprägt ist. In Gondo findet alljährlich am 5. August die Prozession zu "Maria zum Schnee" statt – ein Brauchtum, das die Verbundenheit der Bergbewohner mit den unberechenbaren Naturgewalten unterstreicht.
Praktische Tipps für Simplonreisende
Der Simplonpass ist ganzjährig befahrbar, doch wer die historische Dimension dieser Route wirklich erleben möchte, sollte zwischen Juni und Oktober reisen. In diesen Monaten sind auch die meisten Wanderwege uneingeschränkt zugänglich. Die napoleonische Passstraße lässt sich bequem mit dem Auto befahren; wer jedoch tiefer in die Geschichte eintauchen will, sollte zumindest Teilstücke des alten Stockalperwegs zu Fuß erkunden.
Für eine umfassende Erkundung der Region empfiehlt sich eine Übernachtung. Das Simplonhospiz bietet einfache, aber atmosphärisch einmalige Zimmer – eine Erfahrung, die das Verständnis für die historische Bedeutung des Passes vertieft. In Simplon-Dorf und Gondo finden sich zudem einige familiär geführte Gasthäuser, die authentische lokale Küche servieren. Das "Hotel Post" in Simplon-Dorf überzeugt mit rustikalem Charme und einer hervorragenden Küche, die Walliser Spezialitäten kreativ interpretiert.
Wettertechnisch sollte man sich nicht täuschen lassen: Selbst im Hochsommer können am Simplon plötzliche Wetterumschwünge auftreten. Eine Windjacke gehört daher auch bei sonniger Prognose ins Gepäck. Die extremen klimatischen Bedingungen, die hier herrschen, haben übrigens eine einzigartige Alpine Flora hervorgebracht – zwischen Juni und August verwandeln sich die kargen Hänge in blühende Gärten mit seltenen Enzian- und Edelweißarten.
Für Kulturinteressierte bietet das Ecomuseum Simplon in Simplon-Dorf einen exzellenten Überblick über die Geschichte der Region. Hier wird anschaulich vermittelt, wie der Pass über Jahrhunderte das Leben der Anwohner prägte. Besonders eindrucksvoll: die Rekonstruktion einer mittelalterlichen Saumstation mit originalgetreuen Transportutensilien.
Wer mit Kindern reist, sollte unbedingt einen Abstecher zur alten Goldmine im Zwischbergental einplanen. In den Sommermonaten werden geführte Touren angeboten, bei denen man selbst nach Gold schürfen kann – ein Abenteuer, das Geschichte lebendig werden lässt. Dass dabei selten mehr als ein paar winzige Flitter gefunden werden, tut der Begeisterung keinen Abbruch.
Der Simplon heute
Die Bedeutung des Simplonpasses hat sich im Laufe der Zeit grundlegend gewandelt. Mit der Eröffnung des Simplontunnels im Jahr 1906 verlor die Passstraße ihre Rolle als Hauptverkehrsader. Der 19,8 Kilometer lange Eisenbahntunnel, damals der längste der Welt, verlagerte den Großteil des Personen- und Güterverkehrs unter den Berg. Heute rauschen stündlich Züge durch den Tunnel, während oben auf dem Pass eine fast meditative Ruhe herrscht – unterbrochen nur vom gelegentlichen Motorengeräusch eines Motorrads oder Oldtimers.
Für die lokale Bevölkerung bedeutete diese Entwicklung sowohl Segen als auch Fluch. Einerseits blieb die Region von den negativen Folgen des Massentransports verschont, andererseits brachen wichtige Einnahmequellen weg. Nach einer Phase des wirtschaftlichen Niedergangs hat sich die Simplonregion neu erfunden – als Destination für Kultur- und Naturtourismus. Die historische Passstraße, einst aus militärischen Gründen erbaut, dient heute vorwiegend Genussfahrern und Motorradenthuaiasten als landschaftlich reizvolle Alternative zu den Tunnelrouten.
Trotz dieser touristischen Neuorientierung bewahrt die Region ihre Authentizität. In den kleinen Dörfern entlang der Route wird nach wie vor Landwirtschaft unter härtesten Bedingungen betrieben. Die Alpen oberhalb der Passstraße dienen im Sommer als Weideflächen für Kühe und Ziegen. Das charakteristische Läuten der Glocken bildet die akustische Kulisse für Wanderungen durch die alpine Landschaft.