Schon von weitem siehst du sie: die markanten Hörner, die sich gegen den Himmel abzeichnen. Der Steinbock ist hier zu Hause, in einer Landschaft, die so erhaben ist, dass selbst Könige sich dafür begeisterten. König Vittorio Emanuele II. erklärte das Gebiet zum königlichen Jagdrevier, um die letzten Steinböcke vor der Ausrottung zu bewahren. 1922 wurde daraus Italiens erster Nationalpark – eine Geschichte, die man förmlich in der Luft spürt, wenn man durch die Täler wandert.
Der Gran Paradiso erstreckt sich über 70.318 Hektar in den Regionen Aostatal und Piemont, wobei das Aostatal den größeren Anteil beherbergt. Drei Täler prägen die Landschaft auf valdostanischer Seite: das Cogne-Tal, das Valsavarenche-Tal und das Rhêmes-Tal. Jedes hat seinen eigenen Charakter, seine besonderen Reize. Gemeinsam ist ihnen die wilde Schönheit, die einen schon beim ersten Blick gefangen nimmt.
Im Westen besteht auf einer Länge von etwa 14 km eine gemeinsame Grenze zum französischen Nationalpark Vanoise. Zusammen bilden die beiden Parks eines der größten Schutzgebiete der Alpen – ein grenzüberschreitendes Paradies für alle, die die ungezähmte Natur suchen.
Cogne-Tal: Das Tor zur Wildnis
Das Cogne-Tal ist sozusagen der Haupteingang zum Park – zumindest fühlt es sich so an. Hier pulsiert das Leben, hier trifft man die meisten Wanderer und hier starten die beliebtesten Touren. Die gewagte Aquäduktbrücke von Pondel überragt mit ihrer Höhe von 52 Metern und nur einem Bogen den Grand-Eyvia-Bach im Cogne-Tal – ein römisches Bauwerk, das einen schon mal kurz innehalten lässt.
Cogne selbst ist ein charmantes Bergdorf, das sich seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat. Die schmalen Gassen, die traditionellen Häuser aus Stein und Holz – hier spürt man noch die Authentizität der Bergwelt. Gleichzeitig ist der Ort bestens ausgestattet für Besucher: Hotels, Restaurants, Geschäfte für Outdoor-Ausrüstung. Praktisch, wenn man länger bleiben möchte.
Von Cogne aus führt eine malerische Straße nach Valnontey, einem kleinen Weiler, der als Ausgangspunkt für viele Wanderungen dient. Die Fahrt dorthin ist schon ein kleines Erlebnis – rechts und links türmen sich die Berge auf, dazwischen grüne Wiesen, auf denen im Sommer die Kühe grasen. So stellt man sich die Alpen vor.
Valsavarenche: Abgeschieden und authentisch
Wer es etwas ruhiger mag, ist im Valsavarenche-Tal genau richtig. Hier leben nur wenige hundert Menschen, die Orte sind kleiner, die Straßen schmaler. Man fährt durch Pont und weiter ins Tal hinein, vorbei an alten Kapellen und Bergbauernhöfen, die teilweise noch bewirtschaftet werden.
Das Tal hat etwas Ursprüngliches, fast Archaisches. Die Landschaft wirkt rauer als in Cogne, die Berge scheinen näher zu rücken. Hier fühlt man sich wirklich abgeschieden von der Welt – im positiven Sinne. Die Luft ist klar, die Stille fast greifbar. Nur das Rauschen der Bäche und gelegentlich das Pfeifen eines Murmeltiers durchbrechen die Ruhe.
Von Pont aus kann man mit dem Auto bis zum Parkplatz beim Rifugio Vittorio Emanuele II fahren. Von dort eröffnen sich grandiose Ausblicke auf die Gletscher des Gran Paradiso-Massivs. An klaren Tagen sieht man bis zum Mont Blanc – ein Anblick, der einen sprachlos macht.
Rhêmes-Tal: Das versteckte Juwel
Das Rhêmes-Tal ist vielleicht das stillste der drei valdostanischen Täler. Hier leben Menschen in den Gemeinden Rhêmes-Saint-Georges und Rhêmes-Notre-Dame, aber die Besucherzahlen sind überschaubar. Das macht seinen besonderen Reiz aus – hier hat man oft das Gefühl, ganz allein in der Natur zu sein.
Die Landschaft im Rhêmes-Tal ist sanfter als in den anderen Tälern, geprägt von ausgedehnten Almwiesen und dichten Wäldern. Im Frühling blühen hier unzählige Wildblumen, im Herbst leuchtet das Lärchengold. Ein Paradies für Fotografen und alle, die die Natur in Ruhe genießen wollen.
Besonders schön ist eine Wanderung zu den Seen von Pellaud. Der Weg führt durch Lärchenwälder und über Almwiesen, vorbei an kleinen Kapellen und alten Alphütten. Oben angekommen, spiegeln sich die Berge in den stillen Gewässern – ein Bild wie aus dem Bilderbuch.
Fauna: Mehr als nur Steinböcke
Der Gran Paradiso Nationalpark beherbergt insgesamt 51 Säugetier- und 101 Vogelarten sowie über 1000 alpine Pflanzenarten. Den Steinbock bekommt man mit etwas Geduld fast überall zu sehen – die Tiere sind mittlerweile wieder so zahlreich, dass Begegnungen keine Seltenheit sind. Besonders am frühen Morgen und am späten Nachmittag sind sie aktiv.
Murmeltiere gibt es ebenfalls reichlich. Ihre schrillen Pfiffe hört man schon von weitem – ein untrügliches Zeichen, dass man sich in alpinem Terrain befindet. Auch Gämsen leben hier, sind aber scheuer als die Steinböcke und meist nur mit dem Fernglas zu beobachten.
In den Wäldern trifft man gelegentlich auf Rehe und Hirsche. Mit viel Glück sieht man sogar einen Luchs – die Raubkatzen sind allerdings extrem scheu und hauptsächlich nachtaktiv. Häufiger sind dagegen Füchse und Hermelin zu beobachten.
Die Vogelwelt ist vielfältig: Steinadler kreisen über den Gipfeln, Bartgeier wurden wieder angesiedelt und ziehen majestätisch durch die Täler. In den Wäldern leben Auerhähne, auf den Almwiesen hört man das Zirpen von Schneefinken und Bergpiepern.
Flora: Ein botanisches Wunderland
Die Pflanzenwelt des Gran Paradiso ist außergewöhnlich vielfältig. In den tieferen Lagen dominieren Mischwälder aus Buchen, Fichten und Tannen. Höher oben übernehmen die Lärchen – diese charakteristischen Nadelbäume, die im Herbst ihre Nadeln golden färben, bevor sie sie abwerfen.
Oberhalb der Baumgrenze beginnt die alpine Zone mit ihren speziellen Anpassungen. Hier wachsen polsterförmige Pflanzen wie der Gletscher-Hahnenfuß, das Alpen-Vergissmeinnicht und verschiedene Steinbrecharten. Im Frühsommer verwandeln sich die Almwiesen in wahre Blütenteppiche – ein Schauspiel, das jeden Naturfreund begeistert.
Besonders interessant ist die Paradisea liliastrum, auch Paradieslilie genannt – eine endemische Art, die nur in wenigen Gebieten der Westalpen vorkommt. Ihre weißen, duftenden Blüten sind ein echter Höhepunkt für Botaniker und Wanderer gleichermaßen.
Wandern: 500 Kilometer pure Vielfalt
Das Netz der Wanderwege durch den Park erstreckt sich über 500 km durch die fünf im geschützten Bereich liegenden Täler. Von gemütlichen Spaziergängen bis zu anspruchsvollen Hochtouren ist alles dabei. Die Wege sind größtenteils gut markiert, trotzdem sollte man immer eine ordentliche Karte dabeihaben – das Wetter in den Bergen kann schnell umschlagen.
Eine der klassischen Touren führt von Valnontey zur Fondita-Hütte. Der Weg ist nicht allzu schwierig, bietet aber spektakuläre Ausblicke auf die vergletscherten Gipfel des Gran Paradiso-Massivs. Unterwegs trifft man fast sicher auf Steinböcke – die Tiere haben hier längst die Scheu vor Menschen verloren.
Anspruchsvoller ist die Besteigung des Gran Paradiso selbst. Mit 4.061 Metern ist er der höchste Gipfel des Parks und einer der wenigen Viertausender, die komplett auf italienischem Boden stehen. Die Tour erfordert allerdings Bergerfahrung und entsprechende Ausrüstung – ohne Steigeisen und Pickel geht hier nichts.
Für Familien mit Kindern eignen sich die Themenwege besonders gut. Der Naturlehrpfad im Cogne-Tal erklärt spielerisch die Flora und Fauna des Parks. Auch der Weg zu den Lilian-Wasserfällen ist mit Kindern gut machbar und bietet am Ende ein spektakuläres Naturschauspiel.
Anreise und praktische Tipps
Die drei valdostanischen Täler erreicht man vom Bahnhof Aosta mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Mit dem Auto fährt man über die Autobahn A5 bis zur Ausfahrt Aosta, von dort sind es je nach Tal noch 20 bis 40 Kilometer auf gut ausgebauten Bergstraßen.
Die beste Reisezeit ist von Juni bis Oktober. Im Hochsommer kann es allerdings recht voll werden, besonders in den bekannteren Gebieten um Cogne. Wer es ruhiger mag, sollte die Nebensaison wählen – der Frühherbst ist besonders schön, wenn die Lärchen sich färben.
Der Park hat drei Besucherzentren, in Cogne, Valsavarenche und Rhêmes-Notre-Dame. Dort bekommt man aktuelle Informationen zu Wegen, Wetter und Tiersichtungen. Die Mitarbeiter sprechen meist auch Deutsch und geben gerne Tipps für die besten Touren.
Übernachten kann man in allen drei Tälern – von einfachen Berghütten bis zu komfortablen Hotels ist alles vorhanden. Camping ist nur auf den offiziellen Plätzen erlaubt, wildes Campieren ist im Park strengstens verboten.