Inmitten der majestätischen Südtiroler Alpenlandschaft, unweit des Dreiländerecks zwischen Italien, Österreich und der Schweiz, liegt er da – der Reschensee oder Lago di Resia, wie er auf Italienisch heißt. Auf den ersten Blick erscheint er wie viele andere Bergseen: türkisblaues Wasser umgeben von saftigen Almwiesen und schneebedeckten Gipfeln. Doch etwas lässt den Betrachter stutzen – ein schlanker Kirchturm, der scheinbar direkt aus dem Wasser emporsteigt. Kein optischer Trick, sondern das letzte, trotzig in den Himmel ragende Überbleibsel des Dorfes Graun, das 1950 in den Fluten des künstlich angelegten Stausees versank.
Die Geschichte dieses Kirchturms ist keine Legende, sondern ein Stück Zeitgeschichte, das von radikalen Eingriffen in Natur und Lebenswelten erzählt. 163 Häuser und fast 1.300 Hektar Kulturfläche wurden damals geflutet – gegen den erbitterten Widerstand der Bewohner. Noch heute stößt man bei Einheimischen auf Wehmut, wenn die Sprache auf Alt-Graun kommt. Der romanische Turm aus dem 14. Jahrhundert überlebte als einziges Gebäude die Flutung und ragt seitdem 25 Meter aus dem Wasser – ein steinerner Zeitzeuge, dessen Anblick besonders bei Sonnenauf- oder -untergang von einer melancholischen Schönheit ist.
Natur und Geschichte im Alpenpanorama
Der Reschensee liegt auf einer Höhe von 1.498 Metern im oberen Vinschgau und ist mit einer Fläche von 6,6 Quadratkilometern der größte See Südtirols. Die Wassermassen des Stausees werden von zwei Staudämmen gehalten und dienen vor allem der Energiegewinnung. Drumherum erstreckt sich ein Bergpanorama zum Niederknien: Im Westen thront die Sesvennagruppe, im Norden die Ötztaler Alpen und im Osten die Ortlergruppe. Die klare Bergluft, das türkis schimmernde Wasser und die schneebedeckten Gipfel bilden eine Landschaft, die selbst abgebrühte Alpenkenner zum Staunen bringt.
Besonders schön entfaltet sich der See, wenn man ihn vom Reschenpass aus betrachtet. Diese alte Verbindung zwischen Nord und Süd war schon zu Römerzeiten ein wichtiger Übergang. Später, im Mittelalter, nutzten Händler und Reisende diesen Pass, um ihre Waren über die Alpen zu bringen. Heut' ist der Pass zwar verkehrstechnisch nicht mehr ganz so bedeutsam, dafür kulturhistorisch umso interessanter. Am Seeufer stehen noch alte Grenzhäuschen, die an die Zeit erinnern, als hier Grenzkontrollen zwischen Italien und Österreich stattfanden.
Tragödien unter der Wasseroberfläche
Was heute als malerische Landschaft Touristen anlockt, war für die Bewohner des Dorfes Graun ein Alptraum. Ende der 1930er Jahre beschloss die faschistische Regierung unter Mussolini den Bau des Stausees, um Elektrizität für die aufstrebende Industrie in Norditalien zu gewinnen. Die Bauarbeiten wurden kriegsbedingt unterbrochen, aber nach 1945 wieder aufgenommen. Die Proteste der Dorfbewohner blieben wirkungslos – manche verließen ihre Heimat erst, als das Wasser bereits in ihre Häuser drang.
Am 23. Juli 1950 schlossen sich die Schleusen und innerhalb weniger Wochen versank das Dorf vollständig. Über 150 Familien verloren ihr Zuhause, Bauernhöfe und Kulturland wurden unwiederbringlich zerstört. Manche Bewohner zogen in das oberhalb neu errichtete Dorf Graun, andere wanderten aus. Der Schmerz über den Verlust sitzt bis heute tief – nicht nur die materiellen Güter gingen verloren, sondern auch Erinnerungen, Tradition und Heimat. Rolf Paulmichl, ein einheimischer Dichter, brachte den Schmerz auf den Punkt: "Des olte Graun isch unter Wosser kemmen, und des neue Graun isch nie so schian gwesn wie s'olte."
Die Sprengung des Kirchturms wurde damals verhindert – als Zugeständnis an die Einheimischen und als Denkmal für das untergegangene Dorf. So ragt er nun als Mahnmal aus dem Wasser und erinnert an eine Zeit, in der wirtschaftliche Interessen schwerer wogen als der Fortbestand eines Dorfes. Wenn im Winter der See zufriert, kann man sogar bis zum Turm laufen – ein surreales Erlebnis, das bei Besuchern regelmäßig Gänsehaut verursacht.
Wind, Wasser und Bewegung: Der Reschensee als Sportparadies
Der Reschensee ist nicht nur Geschichtszeuge, sondern auch ein erstklassiges Sportrevier. Besonders Windsportler kommen auf ihre Kosten. Dank des konstanten Windes "Ora", der tagsüber vom Vinschgau heraufweht, bietet der See ideale Bedingungen fürs Windsurfen und Kitesurfen. Die Surfer, die über die Wasseroberfläche gleiten, während im Hintergrund der Kirchturm aufragt, bieten ein geradezu surreales Bild. Kein Wunder, dass sich hier eine aktive Wassersportszene etabliert hat.
Nicht nur Wassersportler zieht es an den Reschensee. Im Sommer wimmelt es hier von Radfahrern, die den 15,7 Kilometer langen Rundweg um den See nutzen. Dieser gut ausgebaute Pfad führt direkt am Ufer entlang und bietet atemberaubende Blicke aufs Wasser und die umliegenden Berge. Dabei läuft man oder radelt immer mit Blick auf den Kirchturm, der wie ein Orientierungspunkt aus dem Wasser ragt. Der Radweg ist Teil der beliebten Via Claudia Augusta, einem Radfernweg, der von Donauwörth bis nach Venedig führt.
Die wirklich Sportlichen nutzen den See auch als Startpunkt für anspruchsvolle Bergtouren. Die umliegenden Dreitausender locken mit gut markierten Wanderwegen und spektakulären Ausblicken. Vom Gipfel des Elferspitze aus bietet sich ein Panorama, das selbst altgediente Bergsteiger sprachlos macht – der türkise See mit seinem Kirchturm eingebettet in ein Meer aus Bergspitzen.
Jahreszeitliche Verwandlungen
Wer den Reschensee zu verschiedenen Jahreszeiten besucht, erlebt praktisch jedes Mal einen anderen See. Im Frühling, wenn der letzte Schnee auf den umliegenden Bergen schmilzt, steigt der Wasserspiegel und der Kirchturm scheint noch einsamer aus dem blau-grünen Wasser zu ragen. Die frischen Farben der erwachenden Natur kontrastieren mit dem grauen Stein des Turms – ein Fotomotiv, das man nicht so schnell vergisst.
Der Sommer bringt lebhaftes Treiben an den See: Wassersportler tummeln sich auf der Oberfläche, Radfahrer und Wanderer bevölkern die Ufer, und auf den umliegenden Almwiesen grasen Kühe vor alpiner Kulisse. Trotz der Beliebtheit bei Touristen findet man immer noch ruhige Ecken, um die Seele baumeln zu lassen und den Blick auf den Kirchturm zu genießen.
Der Herbst verwandelt die Landschaft in ein Farbenmeer. Die Lärchenwälder an den Berghängen leuchten goldgelb, und wenn sich das Licht der tieferstehenden Sonne im ruhigen Wasser spiegelt, entsteht eine fast mystische Atmosphäre. Die Touristenströme versiegen, und eine wohltuende Ruhe kehrt ein. Frühnebel, der über dem Wasser wabert und den Kirchturm halb verhüllt, verstärkt den geheimnisvollen Charakter des Ortes.
Der Winter schließlich bringt die dramatischste Verwandlung: Der See friert zu, und plötzlich kann man zu Fuß zum Kirchturm gelangen. Die verschneiten Berge spiegeln sich auf der Eisfläche, und der Turm, oft mit einer Schneekappe bedeckt, wirkt wie aus einer anderen Welt. Manche Einheimische behaupten, bei klarem Wetter und stillem Eis manchmal noch die Glocken des versunkenen Dorfes zu hören – ein Mythos, der die besondere Atmosphäre des Ortes unterstreicht.
Praktische Infos und Insider-Tipps
Der Reschensee liegt im Vinschgau, der nordwestlichsten Ecke Südtirols. Mit dem Auto erreichst du ihn über die Reschenpassstraße (SS40). Öffentlich fahren regelmäßig Busse von Mals zum See. Die nächste Bahnstation ist ebenfalls in Mals, von dort geht's mit dem Bus weiter. Parkplätze gibt's entlang der Uferstraße genug, besonders bei den Ortschaften Graun und Reschen.
Übernachten kannst du in zahlreichen Pensionen und Hotels rund um den See. Besonders empfehlenswert sind die kleinen Gasthöfe in Graun oder Reschen, die oft noch familiär geführt werden und authentische Südtiroler Küche anbieten. Im Juli und August ist eine Vorausbuchung dringend zu empfehlen – der See ist mittlerweile kein Geheimtipp mehr.
Für den perfekten Fotomoment mit Kirchturm solltest du früh aufstehen. Kurz nach Sonnenaufgang, wenn das Licht weich ist und der See noch spiegelglatt daliegt, entstehen die beeindruckendsten Bilder. Ein Geheimtipp für Fotoenthusiasten ist der Standort am nordwestlichen Ufer, von wo aus der Turm vor der Kulisse der Berge besonders eindrucksvoll wirkt.
Wenn du mehr über die Geschichte des versunkenen Dorfes erfahren möchtest, solltest du unbedingt das kleine Museum in Graun besuchen. Hier werden alte Fotos, persönliche Gegenstände und Zeitzeugenberichte ausgestellt, die einen berührenden Einblick in das Leben vor der Flutung geben. Besonders eindrucksvoll sind die Modelle, die das alte Graun im Maßstab 1:87 zeigen.
Kulinarische Spezialitäten und lokale Begegnungen
Nach einem Tag am See lockt die regionale Küche mit deftigen Spezialitäten. Die Südtiroler Küche ist eine spannende Mischung aus alpenländischer und mediterraner Tradition – hier treffen Knödel auf Pasta und Speck auf Parmesan. In den umliegenden Dörfern findest du urige Gasthäuser, die authentische Gerichte wie Schlutzkrapfen (mit Spinat und Quark gefüllte Teigtaschen), Vinschger Paarl (ein spezielles Brot) oder Marende (traditionelle Brettljause mit Speck, Käse und Wurst) anbieten.
Besonders zu empfehlen ist ein Besuch auf einer der Almhütten oberhalb des Sees. Nach einer Wanderung schmeckt der selbstgemachte Almkäse oder ein Teller Kaiserschmarrn doppelt so gut. Die Wirtsleute erzählen bei einem Glas Rotwein manchmal Geschichten vom alten Graun, die in keinem Reiseführer stehen.
Ein besonderes Erlebnis sind die lokalen Feste und Märkte. Im August findet jährlich das Kirchturmfest statt, bei dem mit Musik, lokalen Spezialitäten und Handwerksvorführungen der Dorfgemeinschaft gedacht wird. Die Einheimischen sind zwar anfangs etwas zurückhaltend, tauen aber schnell auf, wenn man echtes Interesse zeigt. Ein Gespräch über den See und seine Geschichte kann zu überraschenden Begegnungen führen – manch älterer Bewohner hat die Flutung noch selbst miterlebt und teilt seine Erinnerungen.
Die Region um den Reschensee: Ausflugsziele und Entdeckungen
Der Reschensee liegt in einer Region, die zu weiteren Entdeckungen einlädt. Nur wenige Kilometer entfernt befindet sich die mittelalterliche Stadt Glurns – die kleinste Stadt Südtirols mit vollständig erhaltener Stadtmauer. Ein Bummel durch die engen Gassen mit den Laubengängen fühlt sich an wie eine Zeitreise ins Mittelalter. Die Stadt ist besonders im Herbst reizvoll, wenn die umliegenden Apfelplantagen in bunten Farben leuchten.
Wer sich für Kultur interessiert, sollte einen Abstecher ins Kloster Marienberg machen, das hoch über Burgeis thront. Es ist das höchstgelegene Benediktinerkloster Europas und beherbergt wertvolle Fresken aus dem 12. Jahrhundert. Die Führungen durch die Krypta geben einen faszinierenden Einblick in die Spiritualität des Mittelalters.
Naturliebhaber kommen im nahen Nationalpark Stilfserjoch auf ihre Kosten. Das größte Schutzgebiet Italiens bietet eine unglaubliche Artenvielfalt und Wanderwege für jeden Schwierigkeitsgrad. Mit etwas Glück kannst du hier Steinadler, Murmeltiere oder sogar Gämsen beobachten. Die Landschaft wechselt von Almwiesen über dichte Wälder bis hin zu kargen Gletschermoränen – ein Paradies für Fotografen und Naturbegeisterte.
Ein letzter Geheimtipp: An klaren Tagen lohnt sich die Fahrt über den Ofenpass in die Schweiz. Der Kontrast zwischen dem italienischen Vinschgau und dem schweizerischen Engadin ist bemerkenswert – eine Fahrt, die in die Kategorie "landschaftlich besonders reizvoll" fällt und bei der du gleich noch einen weiteren Staat auf deiner Reise abdeckst.
Nachhaltiger Tourismus am Reschensee
Der Reschensee hat in den letzten Jahren an Popularität gewonnen, was nicht nur positive Seiten hat. Die zunehmende Zahl an Besuchern, besonders Tagesgästen, die nur für das perfekte Instagram-Foto kommen, stellt die Region vor Herausforderungen. Umso wichtiger ist es, bei einem Besuch auf nachhaltigen Tourismus zu achten.
Nutze, wenn möglich, öffentliche Verkehrsmittel. Die Vinschgerbahn, die bis Mals fährt, ist ein Vorzeigeprojekt für umweltfreundlichen Nahverkehr in den Alpen. Von dort verkehren regelmäßig Busse zum See. Viele Unterkünfte bieten außerdem die Südtirol Guest Card an, mit der du kostenlos den öffentlichen Nahverkehr nutzen kannst.
Bevorzuge lokale Produkte und Dienstleistungen. Die Region rund um den Reschensee ist bekannt für hervorragende Milchprodukte, Äpfel und Beeren. Auf den Wochenmärkten in Graun und Reschen findest du frische Produkte direkt vom Erzeuger – garantiert ohne lange Transportwege und mit authentischem Geschmack.
Achte beim Wandern und Radfahren darauf, auf den markierten Wegen zu bleiben. Die alpine Flora ist empfindlich, und manche Gebiete sind Rückzugsorte für seltene Tierarten. Selbstverständlich gilt: Was du mit in die Natur nimmst, nimmst du auch wieder mit zurück – Müll hat in der Landschaft nichts verloren.