Italien

Fenestrelle – das "italienische Fort Knox": Die größte Gebirgsfestung Europas

Eine kolossale Festungsanlage erstreckt sich über drei Kilometer einen Bergrücken hinauf. Mehr als 8.000 Stufen verbinden die Bauwerke dieser vergessenen Militäranlage.

Italien  |  Sehenswertes & Attraktionen
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Zwischenablage

Wer vom italienischen Piemont spricht, denkt zuerst an Turin, an Barolo-Wein oder die Haselnusssüßigkeit Gianduia. Fernab vom touristischen Trubel schlummert jedoch ein architektonisches Wunderwerk, das selbst unter Einheimischen noch als Geheimtipp gilt: die Festung Fenestrelle. Im Val Chisone, einem der großen piemontesischen Alpentäler westlich von Turin, windet sich diese gigantische Festungsanlage wie eine Schlange über drei Kilometer einen Bergrücken hinauf. Mit ihren mehr als 1,3 Millionen Kubikmetern verbauten Materials und über 8.000 Stufen darf sie sich zurecht als größte Gebirgsfestung Europas bezeichnen – und als eines der faszinierendsten historischen Bauwerke Italiens, das viel zu wenig Beachtung findet.

Die Dimensionen sind schwindelerregend: Eine 635 Meter lange überdachte Treppe verbindet die verschiedenen Festungssektionen und überwindet dabei knapp 600 Höhenmeter. Insgesamt umfasst das militärische Bauwerk nicht weniger als vier Forts, drei Bastionen, zwei Batterien und mehrere Gebäude, die über eine Fläche von 1.350.000 Quadratmetern verteilt sind. Vom untersten Punkt im Dorf Fenestrelle auf 1.150 Metern bis zum höchsten Teil, dem Fort delle Valli auf 1.800 Metern Höhe, erstreckt sich ein komplexes System von Bauwerken, das selbst erfahrene Festungsforscher ins Staunen versetzt. Kein Wunder also, dass man sie gerne als "italienische Chinesische Mauer" bezeichnet.

Geschichte einer mächtigen Verteidigungsanlage

Der Auftrag zum Bau der Festung stammt von König Viktor Amadeus II. von Savoyen, der nach dem Frieden von Utrecht 1713 das Chisone-Tal von Frankreich übernahm. Die strategische Bedeutung dieses Tals als Zugang zum Piemont war den Savoyern nur allzu bewusst. Der tatsächliche Bau begann jedoch erst 1728 unter der Leitung des Militäringenieurs Ignazio Bertola und zog sich über 122 Jahre hin. Die Festung sollte eine mögliche französische Invasion abwehren und wurde durch ihre Lage zum Schlüssel für die Verteidigung Turins.

Paradoxerweise kam es in Fenestrelle nie zu größeren militärischen Auseinandersetzungen. Die reine Existenz dieser Festungsanlage wirkte abschreckend genug. Stattdessen diente sie als Gefängnis für politische Häftlinge, widerspenstige Offiziere und später sogar für österreichische Kriegsgefangene im Ersten Weltkrieg. Besonders berüchtigt war die Festung in den Jahren nach der italienischen Einigung: Hier wurden Anhänger des Bourbonen-Regimes aus dem ehemaligen Königreich beider Sizilien interniert – viele von ihnen unter menschenunwürdigen Bedingungen. Es ranken sich dunkle Geschichten um diese Zeit, als hunderte süditalienische Soldaten den harten Alpenwinter nicht überlebten. Unter Mussolini dienten die Anlagen schließlich als Internierungslager für politische Gegner.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor die Festung ihre militärische Bedeutung. Sie verfiel allmählich, bis in den 1990er Jahren eine Gruppe engagierter Freiwilliger die "Associazione Progetto San Carlo" gründete, um das architektonische Juwel zu retten und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Diese Bemühungen tragen inzwischen Früchte – heute zieht die Anlage jährlich rund 30.000 Besucher an, eine Zahl, die angesichts der Größe und Bedeutung der Festung noch immer erstaunlich bescheiden wirkt.

Architektonisches Meisterwerk zwischen Fels und Himmel

Die Genialität der Festung Fenestrelle liegt in ihrer perfekten Anpassung an die natürliche Topografie. Das Bauwerk nutzt die felsige Bergflanke optimal aus, schmiegt sich an steile Hänge und verwandelt die alpine Landschaft in ein nahezu unbezwingbares Bollwerk. Die Festung besteht aus drei Hauptkomplexen, die durch die legendäre überdachte Treppe miteinander verbunden sind.

Das untere Fort San Carlo bildet mit seinen massiven Mauern und Bastionen den Anfangspunkt der Anlage. Von hier aus windet sich die "Scala Coperta", jene bemerkenswerte gedeckte Treppe mit 3.996 Stufen, hinauf zum mittleren Komplex, dem Fort Tre Denti. Dieser Mittelteil umfasst mehrere Batterien, Kasernen und Depots. Schließlich erreicht man nach weiteren Stufen das obere Fort delle Valli, das einen atemberaubenden Panoramablick über das gesamte Tal bietet.

Die Bauweise folgt den damals modernsten Prinzipien der Militärarchitektur nach Vauban, einem französischen Festungsbaumeister. Besonders beeindruckend ist die Wasserkonstruktion: Ein ausgeklügeltes System sammelt Regenwasser in Zisternen und verteilt es über die gesamte Anlage – eine technische Meisterleistung für das 18. Jahrhundert. Auch die "Porta Reale", das königliche Tor, zeugt mit seinen eleganten Steinmetzarbeiten davon, dass hier nicht nur militärische Zweckmäßigkeit, sondern auch repräsentative Aspekte eine Rolle spielten.

Beim Durchwandern der endlosen Gänge, Kasernen und Pulverkammern bekommt man unweigerlich ein Gefühl für die Dimensionen: Tausende Arbeiter und Soldaten schufteten jahrzehntelang an diesem Mammutprojekt. Die Mauern, bis zu vier Meter dick, wurden aus dem lokalen Gneis-Gestein errichtet, das der Festung ihre charakteristische graue Farbe verleiht. Bei Sonnenschein scheinen die Mauern manchmal silbrig zu schimmern – ein magischer Anblick, wenn man vom Tal hinaufblickt.

Besuch der Festung – praktische Informationen

Die Festung Fenestrelle liegt etwa 80 Kilometer westlich von Turin und ist mit dem Auto über die SS23 gut zu erreichen. Von Turin aus dauert die Fahrt rund eineinhalb Stunden. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln wird's kniffliger: Man nimmt zunächst den Zug nach Pinerolo und dann den Bus nach Fenestrelle – allerdings verkehren die Busse nicht sehr häufig, besonders an Wochenenden und Feiertagen. Ein eigenes Fahrzeug ist daher empfehlenswert.

Die Besichtigung der Festung erfolgt ausschließlich im Rahmen von Führungen. Man kann zwischen verschiedenen Touren wählen, die zwischen zwei und acht Stunden dauern. Für Einsteiger bietet sich die "Königliche Tour" an, die etwa zwei Stunden dauert und die wichtigsten Teile des Fort San Carlo umfasst. Echten Festungsfans sei dagegen die "Komplette Tour" empfohlen – ein achtstündiger Marsch mit 2.000 Höhenmetern, der die gesamte Anlage vom untersten bis zum obersten Fort erkundet. Für diese Mammuttour braucht man gute Kondition, festes Schuhwerk und ausreichend Verpflegung.

Die Festung ist von März bis November geöffnet, wobei die genauen Öffnungszeiten je nach Saison variieren. Im Winter bleibt sie aufgrund der Witterungsbedingungen größtenteils geschlossen. Eine Reservierung, besonders für die längeren Touren und in der Hauptsaison, ist dringend anzuraten. Die Eintrittspreise liegen je nach Tour zwischen 10 und 30 Euro. Als Familienvater sei angemerkt: Kinder unter 10 Jahren sollten besser nur an den kürzeren Führungen teilnehmen, da die langen Märsche durch die Festung schnell ermüdend wirken können.

Innerhalb der Festungsmauern mangelt es an gastronomischen Angeboten – ein kleiner Kiosk beim Eingang ist die einzige Verpflegungsmöglichkeit. Wer länger bleibt, sollte daher Wasser und Snacks einpacken. Im Dorf Fenestrelle selbst gibt es einige traditionelle Restaurants, die piemontesische Spezialitäten anbieten. Besonders empfehlenswert ist die "Locanda degli Artisti", wo die hausgemachten Tajarin (eine lokale Pasta-Spezialität) mit Pilzen für müde Festungsbesucher wie gerufen kommen.

Der versteckte Schatz – warum Fenestrelle mehr Aufmerksamkeit verdient

Es mutet seltsam an, dass eine Anlage von solcher historischer und architektonischer Bedeutung in touristischen Kreisen so wenig Beachtung findet. Im Gegensatz zum stark frequentierten Mont-Saint-Michel in Frankreich oder den Festungen von Malta zieht Fenestrelle nur einen Bruchteil der Besucher an. Dies hat allerdings auch Vorteile: Wer hierher kommt, kann die eindrucksvolle Atmosphäre der Festung ohne Massentourismus genießen.

Beim Erkunden der verwinkelten Gänge und verlassenen Kasernen fühlt man sich mitunter wie ein Pionier, der ein vergessenes Relikt entdeckt. Die Mauern scheinen Geschichten zu flüstern – von harten Wintern, von Soldaten fern der Heimat, von politischen Gefangenen und ihrem Schicksal. An einem ruhigen Herbsttag, wenn der Nebel zwischen den Festungsmauern hängt und die Schritte auf dem Kopfsteinpflaster hohl widerhallen, kann man die Geschichte förmlich spüren.

In den letzten Jahren hat die Festung immerhin einige literarische Würdigungen erfahren. Am bekanntesten ist wohl Alessandro Perissinotto's Roman "La canzone di Colombano", der teilweise in Fenestrelle spielt. Auch der Bestsellerautor Carlo Lucarelli erwähnte die Festung in seinem Buch über das Risorgimento und dessen dunkle Seiten. Solche literarischen Bezüge haben dazu beigetragen, dass die Besucherzahlen langsam steigen – doch Fenestrelle bleibt ein verborgenes Juwel.

Mehr als ein Tagesausflug – die Umgebung erkunden

Das Val Chisone und die umliegenden Täler bieten genug Sehenswürdigkeiten für einen mehrtägigen Aufenthalt. Naturliebhaber kommen in den angrenzenden Bergregionen voll auf ihre Kosten. Der Parco Naturale della Val Troncea liegt nur einen Katzensprung entfernt und begeistert mit alpinen Wanderwegen und einer reichen Flora und Fauna. Mit etwas Glück lassen sich hier sogar Steinböcke und Gämsen beobachten.

Auch kulturell hat die Region einiges zu bieten. In Pragelato und Usseaux, zwei charmanten Bergdörfern in der Nähe, kann man traditionelle alpine Architektur bewundern. Besonders Usseaux, das zu den "schönsten Dörfern Italiens" (Borghi più belli d'Italia) zählt, verzaubert mit seinen farbenfrohen Wandmalereien und dem gut erhaltenen historischen Kern.

Ein kurioser Aspekt der lokalen Geschichte sind die Waldenser-Gemeinden im benachbarten Val Pellice. Diese protestantische Minderheit konnte sich trotz jahrhundertelanger Verfolgung in den abgelegenen Alpentälern behaupten. In Torre Pellice lohnt sich ein Besuch des Waldenser-Museums, das die bewegte Geschichte dieser religiösen Gemeinschaft dokumentiert.

Wer nach dem Festungsbesuch noch mehr historische Militärarchitektur sehen möchte, findet im nahegelegenen Exilles eine weitere beeindruckende Festung – zwar kleiner als Fenestrelle, aber nicht weniger interessant. Sie diente Umberto Eco angeblich als Inspiration für "Die Insel des vorigen Tages" und beherbergt heute ein sehenswertes Alpenmuseum.

Zwischen Vergangenheit und Zukunft – Herausforderungen des Erhalts

Die Erhaltung eines so gigantischen historischen Komplexes stellt eine enorme Herausforderung dar. Wind, Wetter und die lange Winterkälte setzen den Mauern zu. Die "Associazione Progetto San Carlo" kämpft seit Jahren mit begrenzten Mitteln gegen den Verfall. Obwohl die Festung seit 1999 auf der vorläufigen Liste für das UNESCO-Weltkulturerbe steht, fehlt es an ausreichender finanzieller Unterstützung für umfassende Restaurierungsarbeiten.

Mehrere Bereiche der Festung sind nach wie vor nicht öffentlich zugänglich, weil sie renovierungsbedürftig oder schlichtweg zu gefährlich sind. Die Freiwilligen der Associazione leisten Beachtliches, doch die Dimensionen der Anlage übersteigen ihre Möglichkeiten bei weitem. Ein offizieller UNESCO-Status würde nicht nur zu mehr Besuchern führen, sondern auch zusätzliche Fördermittel erschließen.

Trotz aller Widrigkeiten gibt es positive Entwicklungen. In jüngster Zeit wurden mehrere kulturelle Veranstaltungen in die Festung verlagert, um Aufmerksamkeit zu generieren. Im Sommer finden gelegentlich Konzerte im Innenhof des Fort San Carlo statt – eine beindruckende Kulisse für klassische Musik. Auch filmisch wurde die Festung bereits entdeckt, wenn auch meist für kleinere italienische Produktionen. Angeblich haben auch internationale Filmteams die Location bereits besichtigt. Ein "Game of Thrones"-artiges Epos in den Mauern von Fenestrelle? Das hätte durchaus seinen Reiz.

Die vergessenen Geschichten von Fenestrelle

Neben den offiziellen historischen Fakten ranken sich um Fenestrelle zahlreiche Legenden und Anekdoten. Besonders hartnäckig hält sich die Geschichte vom "kleinen Sibirien", wie die Festung nach der italienischen Einigung genannt wurde. Tausende süditalienische Soldaten der bourbonischen Armee, die sich weigerten, dem neuen italienischen Königreich die Treue zu schwören, sollen hier unter unmenschlichen Bedingungen gefangen gehalten worden sein. Viele starben an Kälte, Hunger oder Krankheiten. Diese dunkle Episode der italienischen Geschichte wurde lange verschwiegen und erst in jüngerer Zeit aufgearbeitet.

Auch von Geistern und Spukerscheinungen wird gemunkelt – natürlich nur, wenn man den Einheimischen nach dem dritten Glas Barbera lauscht. Besonders in der überdachten Treppe, der "Scala Coperta", sollen nächtliche Schritte zu hören sein, obwohl sich niemand dort aufhält. Einige Führer erzählen augenzwinkernd von einem französischen Spion, der beim Versuch, Pläne der Festung zu stehlen, in den Gängen eingemauert wurde und nun als ruheloser Geist umherirrt.

Historisch verbürgt ist hingegen die Geschichte eines bemerkenswerten Fluchtversuchs aus dem Jahr 1844. Ein politischer Häftling namens Luigi Andrioli schaffte es tatsächlich, aus seinem Verlies auszubrechen und sich durch die verschneiten Berge nach Frankreich durchzuschlagen. Seine Memoiren, die er später im Exil verfasste, geben einen seltenen Einblick in den Gefängnisalltag der Festung und zählen heute zu den wichtigen Quellen für Historiker.

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