Tief in den französischen Voralpen, rund 30 Kilometer nördlich von Grenoble, liegt das Mutterkloster der Kartäuser - die Grande Chartreuse. Umgeben von dichten Nadelwäldern und schroffen Kalksteinfelsen des gleichnamigen Massivs entstand hier eines der einzigartigsten Klöster Europas. Der nächste Ort, Saint-Pierre-de-Chartreuse, liegt ein paar Kilometer talabwärts. Dazwischen: hauptsächlich Wald, schmale Straßen und eine Stille, die für städtische Ohren fast unwirklich erscheint.
Die Zufahrt zum eigentlichen Kloster ist für die Öffentlichkeit gesperrt. Daran hat sich seit Jahrhunderten nichts geändert, und das gilt mit erstaunlicher Konsequenz. Nicht einmal der französische Präsident darf ohne Erlaubnis des Priors eintreten. Das Kloster selbst kann man nur aus der Ferne sehen – ein gewaltiger, festungsartiger Komplex mit grauen Steinmauern, umgeben von Bergwiesen und Nadelwald. Wer es dennoch von Nahem erleben will, dem bleibt das 1957 eröffnete Museum "La Correrie" am Fuße des Berges, das die Geschichte und Lebensweise der Mönche dokumentiert. Knapp zwanzig Minuten Fußweg vom eigentlichen Kloster entfernt, bietet es den einzigen legalen Blick hinter die Kulissen eines Ordens, der die Abgeschiedenheit zu seiner Maxime gemacht hat.
Die Gründung durch Bruno von Köln
Angefangen hat alles mit einem Mann, der genug hatte vom weltlichen Treiben: Bruno von Köln. Geboren als Sohn wohlhabender Eltern um 1030, war er bereits ein angesehener Theologe und Lehrer der Domschule von Reims, bevor er sich entschloss, ein radikal anderes Leben zu führen. Was genau den Ausschlag gab, darüber streiten Historiker bis heute. Überliefert ist, dass Bruno zunehmend von den Missständen in der Kirche seiner Zeit abgestoßen wurde und nach einer ursprünglicheren Form des religiösen Lebens suchte.
1084 kam Bruno mit sechs Gefährten in die abgelegene Chartreuse-Region, die damals zum Bistum Grenoble gehörte. Bischof Hugo von Grenoble, selbst ein Reformer, hatte ihm diesen Ort vorgeschlagen – ein unwirtliches Hochtal auf rund 1175 Metern Höhe, umgeben von schroffen Bergen. Der Legende nach soll Bruno in der Nacht vor seiner Ankunft sieben Sterne vom Himmel fallen gesehen haben, genau an die Stelle, wo später das Kloster gebaut wurde. Vielleicht keine Überraschung, dass der Orden sieben Sterne im Wappen trägt.
Die ersten Unterkünfte waren simpel: primitive Holzhütten und eine kleine Kapelle aus Stein. Doch schnell kristallisierte sich ein Lebensstil heraus, der bis heute kennzeichnend für die Kartäuser ist: extreme Askese, Schweigen und fast vollständige Einsamkeit, unterbrochen nur von gemeinsamen Gebetszeiten. Bruno selbst blieb allerdings nur sechs Jahre in der Chartreuse. Papst Urban II., sein ehemaliger Schüler, rief ihn 1090 nach Rom, um ihn als Berater zu gewinnen. Später gründete Bruno ein zweites Kloster in Kalabrien, wo er 1101 starb.
Das Leben der Kartäusermönche – Schweigen als Lebensprinzip
Wer als Kartäusermönch lebt, der wählt einen Lebensweg, der selbst unter monastischen Maßstäben extrem erscheint. "Stat crux dum volvitur orbis" – "Das Kreuz steht fest, während die Welt sich dreht" – lautet ihr Motto. Und tatsächlich hat sich an den Grundprinzipien seit fast tausend Jahren nur wenig geändert. Die Regel der Kartäuser, die "Statuta", wurden im 12. Jahrhundert niedergeschrieben und seither nur behutsam angepasst.
Das Herzstück des kartäusischen Lebens sind die Einzelzellen. Dabei handelt es sich nicht etwa um kleine Räume, sondern um regelrechte Einsiedlerhäuschen, die durch Gänge mit der Kirche und dem Gemeinschaftsbereich verbunden sind. Jeder Mönch hat zwei Etagen zur Verfügung: unten eine Werkstatt und einen kleinen Garten, oben einen Wohn- und Schlafraum sowie ein Oratorium für das persönliche Gebet. Diese "Zelle" verlässt ein Kartäuser nur für die gemeinsamen Gebete in der Klosterkirche – dreimal täglich und einmal in der Nacht.
Ihre Tage folgen einem strengen, meditativen Rhythmus: Aufstehen um 23:30 Uhr zum ersten Nachtgebet, zurück ins Bett gegen 2:30 Uhr, wieder aufstehen um 6:30 Uhr. Dazwischen: Gebet, Studium, Meditation und Handarbeit in vollkommener Einsamkeit. Die Mahlzeiten nehmen die Mönche – außer sonntags – allein in ihren Zellen ein. Das Essen wird durch eine kleine Durchreiche an der Zellentür gereicht, ohne dass der Bringer und der Empfänger sich sehen müssen. Warme Mahlzeiten gibt es nur einmal täglich. Fleisch ist streng verboten, außer im Krankheitsfall.
Schweigen ist mehr als nur eine Regel – es ist ein Lebensprinzip. Die Mönche sprechen nur während des sonntäglichen Spaziergangs miteinander, der "Spatiamentum" genannt wird, und während des wöchentlichen Kapitels, der Versammlung aller Mönche. Ansonsten: Stille. Sogar Gesten und Zeichen sollen auf das Nötigste beschränkt werden. Die Kartäuser verzichten auch weitgehend auf moderne Technologien. Kein Fernsehen, kein Radio, kein Internet. Nur für die Klosterverwaltung gibt es inzwischen einen Telefonanschluss und Computer.
Die Grande Chartreuse – Baugeschichte und Architektur
Der heutige Gebäudekomplex ist nicht mehr der ursprüngliche. Das erste Kloster, das Bruno errichtet hatte, wurde 1132 durch eine Lawine zerstört. Danach baute man den Komplex etwas tiefer im Tal wieder auf. Doch auch dieser zweite Bau fiel 1320 einem verheerenden Brand zum Opfer. Das jetzige Kloster stammt im Kern aus dem 17. Jahrhundert, nachdem ein weiterer Brand 1676 große Teile zerstört hatte.
Von außen wirkt die Grande Chartreuse weniger wie ein Kloster als vielmehr wie eine mittelalterliche Festung – massiv, abweisend und funktional. Die grauen Steinmauern verschmelzen fast mit den Felsen dahinter. Das Dach ist mit dunklen Schieferplatten gedeckt, die den häufigen Schneefällen der Region standhalten. Die Fenster sind klein, die Türen schwer. Nichts lädt zum Eintreten ein, und genau das ist beabsichtigt.
Der Grundriss folgt dem typischen kartäusischen Muster: Ein großer Kreuzgang verbindet die Kirche mit den Einzelzellen der Mönche. Um diesen Kreuzgang herum gruppieren sich die Gemeinschaftsräume wie Kapitelhaus, Refektorium (das nur sonntags genutzt wird) und Bibliothek. Ein kleinerer Kreuzgang verbindet die Räume der Laienbrüder, die für die praktischen Aufgaben zuständig sind. Diese Zweiteilung ist charakteristisch für kartäusische Klöster.
Die Klosterkirche selbst ist schlicht – kein Gold, keine aufwendigen Verzierungen. Weiß getünchte Wände, dunkles Holzgestühl für die Mönche, ein einfacher Altar. Der Raum ist in zwei Bereiche geteilt: einen für die eigentlichen Mönche (Patres) und einen für die Laienbrüder (Konversen). Letztere – inzwischen eine Minderheit – übernehmen die praktischen Arbeiten und haben ein etwas weniger strenges Gebetspensum.
Trotz aller Schlichtheit verfügt das Kloster über einige künstlerische Schätze, insbesondere alte Handschriften in der Bibliothek, die zu den bedeutendsten monastischen Sammlungen Frankreichs gehört. Aber selbst diese Kunstwerke dienen nur einem Zweck: der Vertiefung des spirituellen Lebens und der Kontemplation.
Die französische Revolution und ihre Folgen
Der radikalste Einschnitt in der Geschichte der Grande Chartreuse kam mit der Französischen Revolution. 1790 wurden alle Klöster in Frankreich aufgelöst, auch die Grande Chartreuse. Die Mönche mussten fliehen, die Gebäude wurden beschlagnahmt und viele wertvolle Bücher und Kunstgegenstände gingen verloren. Das Kloster selbst wurde zweckentfremdet und teilweise geplündert.
Erst 1816, nach der Restauration der Monarchie, konnten die Kartäuser zurückkehren. Doch die Ruhe währte nicht lange. Zwischen 1903 und 1940 wurden die Mönche erneut vertrieben, diesmal aufgrund der antikirchlichen Politik der Dritten Republik. Sie fanden Exil in Italien, Spanien und anderen Ländern. Während dieser Zeit verfiel das Kloster zunehmend.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs brachte schließlich die dauerhafte Rückkehr. 1940 konnten die ersten Mönche wieder einziehen, und seitdem ist das Kloster ununterbrochen bewohnt. Heute leben etwa 30 Mönche in der Grande Chartreuse – deutlich weniger als in früheren Jahrhunderten, als es oft über 70 waren. Die Nachwuchssorgen, die viele Klöster plagen, machen auch vor den Kartäusern nicht Halt. Gleichzeitig ist der Orden jedoch stolz darauf, dass er im Gegensatz zu vielen anderen nie reformiert werden musste, weil er nie von seinem ursprünglichen Ideal abwich.
Chartreuse – vom Heilmittel zum weltbekannten Likör
Ausgerechnet der schweigende, weltabgewandte Orden der Kartäuser ist für ein Produkt weltberühmt, das in jeder gut sortierten Bar zu finden ist: den Kräuterlikör Chartreuse. Die Geschichte dieses Getränks beginnt im Jahr 1605, als der Marschall d'Estrées den Mönchen ein altes Manuskript aus dem Jahr 1510 schenkte. Es enthielt ein kompliziertes Rezept für ein "Elixier des langen Lebens", das aus über 130 Kräutern und Pflanzen hergestellt werden sollte.
Die Kartäuser tüftelten jahrzehntelang, bis der Klosterapotheker Frère Jérôme Maubec im Jahr 1737 endlich die richtige Mischung fand. Ursprünglich als Medizin gedacht, wurde das "Elixier Végétal de la Grande-Chartreuse" schon bald auch als Genussmittel geschätzt. Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten die Mönche dann eine mildere Version – den grünen Chartreuse mit 55% Alkoholgehalt. 1838 kam der gelbe Chartreuse mit 40% hinzu, etwas süßer und milder im Geschmack.
Die Produktion des Likörs ist einer der wenigen Bereiche, in denen die Kartäuser mit der Außenwelt in Berührung kommen – wenn auch indirekt. Seit 1989 wird Chartreuse in einer modernen Anlage in Voiron hergestellt, etwa 20 Kilometer vom Kloster entfernt. Nur zwei oder drei Mönche kennen das vollständige Rezept und überwachen die Herstellung der Kräutermischung. Der Verkauf finanziert nicht nur den Unterhalt des Klosters, sondern auch die karitativen Aktivitäten des Ordens.
Die Destillerie in Voiron kann man übrigens besichtigen – sie ist neben dem Museum La Correrie der einzige Ort, an dem man zumindest einen Hauch des kartäusischen Lebens erhaschen kann, ohne selbst Mönch zu werden. Eine kuriose Situation: Während das Kloster selbst vollkommen unzugänglich bleibt, ist sein berühmtestes Produkt in aller Welt präsent.
Ein Besuch in der Chartreuse-Region
Obwohl das Kloster selbst unzugänglich ist, lohnt sich ein Besuch in der Region Chartreuse allemal. Das Museum La Correrie bietet einen guten Einblick in Geschichte und Alltag der Kartäuser. Hier werden Repliken der Mönchszellen gezeigt, alte Manuskripte, liturgische Gewänder und Gerätschaften. Die Ausstellung wurde in den letzten Jahren modernisiert und ist durchaus sehenswert, wenn auch nicht spektakulär.
Der umliegende Naturpark "Parc naturel régional de Chartreuse" ist ein Paradies für Wanderer und Naturfreunde. Auf gut markierten Wegen kann man das Massiv erkunden, das sich auf einer Fläche von etwa 60 mal 25 Kilometern erstreckt. Der GR9, ein Fernwanderweg, führt direkt am Kloster vorbei. Besonders beeindruckend: die Aussicht vom Gipfel des Charmant Som (1.867 m) oder des Grand Som (2.026 m), von wo aus man das Kloster von oben sehen kann – klein und verloren wirkend in der gewaltigen Berglandschaft.
Wer auf den Spuren der Kartäuser wandeln möchte, dem sei der "Chemin de Saint-Bruno" empfohlen, ein etwa dreistündiger Rundweg, der vom Parkplatz bei der Kapelle Notre-Dame de Casalibus startet. Diese Kapelle markiert den Ort, an dem Bruno sein erstes Kloster errichtete. Der Weg führt durch dichte Wälder, vorbei an der Quelle, die die Mönche mit Wasser versorgt, und bietet mehrere Ausblicke auf das Kloster aus der Ferne.
Die umliegenden Dörfer sind ebenfalls einen Besuch wert. Saint-Pierre-de-Chartreuse hat den Charme eines typischen Alpendorfs bewahrt, mit einer hübschen Kirche und traditionellen Häusern. Es gibt mehrere kleine Hotels und Restaurants, in denen man die regionale Küche probieren kann – Käsespezialitäten wie Tomme de Savoie oder Fondue stehen meist auf der Karte. Im Winter verwandelt sich das Dorf in ein familienfreundliches Skigebiet.
Der Besuch in Voiron mit seiner Chartreuse-Destillerie rundet den Ausflug ab. Die Führungen dort sind informativ und enden – wie könnte es anders sein – mit einer Verkostung der verschiedenen Liköre. In den längeren Touren wird auch das beeindruckende Fasslager gezeigt, in dem der Likör reift, bevor er abgefüllt wird.
Eine zeitlose Existenz in einer beschleunigten Welt
Es hat etwas Paradoxes: Da steht ein Kloster, das sich bewusst von der Welt abwendet, und zieht gerade dadurch die Aufmerksamkeit der Welt auf sich. Die Grande Chartreuse ist zu einem Symbol geworden für etwas, das in unserer schnelllebigen, vernetzten Gesellschaft immer seltener wird: radikale Stille, bewusste Langsamkeit, konsequenter Verzicht.
2005 erregte der Dokumentarfilm "Die große Stille" (Originaltitel: "Le Grand Silence") des deutschen Regisseurs Philip Gröning weltweites Aufsehen. Gröning hatte 16 Jahre lang um die Erlaubnis gebeten, im Kloster filmen zu dürfen. Als er sie endlich bekam, verbrachte er mehrere Monate dort, ohne Team, ohne künstliches Licht, ohne Kommentar. Heraus kam ein dreistündiger Film, der hauptsächlich aus Bildern des klösterlichen Alltags besteht, unterbrochen von Texttafeln mit Zitaten aus der Bibel. Der Film wurde zu einem unerwarteten Erfolg und brachte die Grande Chartreuse einem breiten Publikum näher, ohne ihre Geheimnisse zu verraten.
Die Faszination für diesen Ort hat viel mit unserem eigenen Leben zu tun. In einer Zeit, in der ständige Erreichbarkeit selbstverständlich scheint, in der Stille fast als Bedrohung empfunden wird und in der Einsamkeit oft mit Einsamkeit verwechselt wird, wirkt die kartäusische Lebensweise wie ein radikaler Gegenentwurf. Ein Leben ohne Smartphone, ohne Social Media, ohne ständige Updates – für die meisten von uns unvorstellbar. Und doch: Die Sehnsucht nach Entschleunigung, nach Tiefe statt Breite, nach Stille statt Lärm treibt jedes Jahr Tausende von Besuchern in die Chartreuse-Region.