Italien

Stilfser Joch: Unterwegs auf der legendären Passstraße mit ihren 48 Kehren

Steil aufgetürmt wie eine windungsreiche Schlange frisst sich die Passstraße durch die Südtiroler Bergwelt hoch zum Stilfser Joch. Hier wird Fahren zur Herausforderung, zur Kunst und manchmal zur Nervenprobe.

Italien  |  Sehenswertes & Attraktionen
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Zwischenablage

Wie eine gigantische steinerne Schlange windet sich das Stilfser Joch durch die schroffe Bergwelt an der Grenze zwischen Italien und der Schweiz. Mit seinen berüchtigten 48 Kehren auf der Südrampe und einer Passhöhe von 2.757 Metern ist das Stilfser Joch (italienisch: Passo dello Stelvio) nicht nur die zweithöchste asphaltierte Passstraße der Alpen, sondern für viele auch die spektakulärste überhaupt. Die Fahrer belohnt sie mit einem atemberaubenden Panorama auf die Ortler-Gruppe – vorausgesetzt, man hat zwischendurch noch Zeit für einen Blick nach rechts oder links.

Die Entstehungsgeschichte dieser außergewöhnlichen Straße reicht zurück ins frühe 19. Jahrhundert. Zwischen 1820 und 1825 ließ die österreichische Regierung unter Kaiser Franz I. dieses Meisterwerk der Ingenieurskunst errichten – damals noch, um militärische und politische Interessen im Habsburgerreich zu sichern. Hauptverantwortlicher Ingenieur war Carlo Donegani, der für seine Leistung später sogar in den Adelsstand erhoben wurde. Kein Wunder, schließlich stellte der Bau bei den damaligen technischen Möglichkeiten eine kaum vorstellbare Herausforderung dar. Über 2.500 Arbeiter schufteten fünf Jahre lang unter härtesten Bedingungen, um dieses Bauwerk zu vollenden.

Heute ist die Straße vollständig asphaltiert, doch noch immer flößt sie Respekt ein – nicht zuletzt wegen ihrer teils schmalen Fahrbahn, den engen Kehren und den stellenweise rasanten Steigungen von bis zu 15 Prozent. Wer hier fährt, begibt sich auf eine Reise durch Technik- und Kulturgeschichte zugleich.

Geografie und Lage: Im Herzen der Alpen

Das Stilfser Joch verbindet Bormio im lombardischen Veltlin mit Prad am Stilfser Joch in Südtirol. Die Passhöhe markiert dabei nicht nur die Wasserscheide zwischen Etsch und Adda, sondern auch die Grenze zwischen den italienischen Provinzen Sondrio und Südtirol. Nördlich erhebt sich die Dreisprachenspitze (2.843 m), die ihren Namen den drei hier aufeinandertreffenden Sprachräumen Italienisch, Deutsch und Rätoromanisch verdankt.

Die Nordrampe von Prad führt über 24 Kehren hinauf zur Passhöhe, während die berühmtere Südrampe mit ihren 48 engen Serpentinen einen echten Kraftakt darstellt. Jede dieser Kehren ist nummeriert – ein praktisches Detail für Orientierungssuchende und gleichzeitig eine Art Countdown für diejenigen, die den Aufstieg meistern wollen. Die Kehren sind teilweise so eng, dass längere Fahrzeuge mehrmals ansetzen müssen, um sie zu bewältigen.

Was dem Stilfser Joch seinen besonderen Reiz verleiht, ist die beeindruckende Kulisse. Während der Fahrt blickt man auf die vergletscherten Gipfel der Ortler-Gruppe mit dem 3.905 Meter hohen Ortler als höchstem Berg Südtirols. Bei guter Sicht reicht der Blick bis zur Bernina-Gruppe und den Ötztaler Alpen. Das karge, alpine Gelände oberhalb der Baumgrenze verstärkt dabei den Eindruck, sich am Rande der bewohnbaren Welt zu bewegen.

Die Herausforderung: 48 Kehren zum Himmel

Die Fahrt über das Stilfser Joch ist kein Spaziergang – sie ist eine Herausforderung, die vollste Konzentration erfordert. Besonders die Südrampe hat es in sich: Auf knapp 25 Kilometern überwindest du einen Höhenunterschied von etwa 1.800 Metern. Die Straße steigt dabei kontinuierlich an, ohne Verschnaufpausen zu bieten. Die Kehren reihen sich wie Perlen auf einer Schnur aneinander – mal enger, mal weiter, aber immer fordernd.

Ab Bormio geht es zunächst vergleichsweise moderat bergauf durch das Valle dei Bagni, vorbei an den historischen Terme di Bormio. Der erste Streckenabschnitt vermittelt noch einen falschen Eindruck von dem, was kommt. Ab dem Abzweig nach Santa Caterina Valfurva wird es ernst. Hier beginnt die eigentliche Passstraße mit ihren zahllosen Kehren.

Ein besonders spektakulärer Abschnitt erwartet dich oberhalb der Ortschaft Trafoi auf der Nordrampe. Hier schlängelt sich die Straße in einer fast unwirklich anmutenden Konzentration von Kehren den Berg hinauf. Bei diesem Anblick wird schnell klar, warum alte Postkarten dieses Motiv so gerne zeigten: Von weitem betrachtet, wirkt die Straße wie ein feines Zickzackmuster, das jemand in den Berg geritzt hat. Aus der Nähe offenbart jede Kurve einen neuen Blickwinkel auf die umliegende Bergwelt.

Übrigens sind die Tunnel auf der Nordrampe ein Kapitel für sich – klamm und teilweise unbeleuchtet, fordern sie zusätzliche Aufmerksamkeit. In manchen beträgt die Durchfahrtshöhe gerade mal 3,20 Meter. Falls du mit einem höheren Fahrzeug unterwegs bist, solltest du das unbedingt im Vorfeld checken.

Die Saison: Ein kurzes Zeitfenster

Das Stilfser Joch ist keine Ganzjahresstrecke. In der Regel ist die Passstraße nur von Ende Mai/Anfang Juni bis etwa Ende Oktober befahrbar. Die genauen Öffnungszeiten hängen von den Witterungsbedingungen ab, denn selbst im Hochsommer kann es hier oben schneien. In den Wintermonaten wäre eine Offenhaltung viel zu gefährlich und aufwendig – Lawinen und extreme Schneemassen machen die Straße unpassierbar.

Die Sommermonate bringen ihre eigenen Herausforderungen mit sich. Juli und August sind die Hauptsaison, in der sich Motorradfahrer, Radsportler und Autotouristen die enge Straße teilen müssen. An sonnigen Wochenenden kann es regelrecht voll werden. Morgens früh oder am späten Nachmittag triffst du auf deutlich weniger Verkehr. Die beste Reisezeit sind die Randmonate Juni und September, wenn das Wetter meist noch stabil ist, die Temperaturen angenehm sind und der Massenandrang sich in Grenzen hält.

Einen besonderen Reiz bieten die Tage kurz nach der Öffnung im Frühsommer, wenn die Passstraße frisch geräumt zwischen meterhohen Schneewänden verläuft. Dieses Schauspiel zieht jedes Jahr zahlreiche Fotografen an. Genauso eindrucksvoll: die leuchtenden Herbstfarben im September, wenn sich die tiefer gelegenen Lärchenwälder golden färben.

Mit dem Auto: Alpines Fahrabenteuer

Die Autofahrt über das Stilfser Joch ist ein Klassiker unter Alpenpässen und ein Muss für jeden, der sich als Fahrer herausfordern möchte. Die schmale Straße mit ihren teilweise unübersichtlichen Kehren verlangt höchste Konzentration und vorausschauendes Fahren. Hier ist nicht der Ort für Hektik oder Geschwindigkeitsrausch – die Herausforderung liegt vielmehr im präzisen Handling des Fahrzeugs und dem richtigen Einschätzen jeder einzelnen Kurve.

Selbst moderne Autos kommen hier ins Schwitzen. Die kontinuierliche Steigung und die vielen Kurven belasten Bremsen und Motor. Bei älteren Fahrzeugen empfiehlt sich ein Check der Bremsanlage vor der Fahrt. Generell gilt: Bei der Abfahrt solltest du nicht ständig auf der Bremse stehen, sondern die Bremswirkung des Motors durch geschicktes Herunterschalten nutzen.

Trotz aller fahrerischen Herausforderungen – hin und wieder solltest du anhalten und die Aussicht genießen. Auf der Passhöhe gibt es ausreichend Parkplätze, ebenso an einigen markanten Punkten entlang der Strecke. Ein besonders beliebter Fotostopp ist die sogenannte "Ferdinandshöhe" auf etwa 2.700 Metern, die einen spektakulären Blick auf die Kehren der Südrampe bietet.

Die Straße ist übrigens mautfrei – ein nicht zu unterschätzender Vorteil gegenüber manch anderem Alpenpass. Allerdings solltest du genügend Kraftstoff im Tank haben, denn Tankstellen sind rar gesät. Die letzte Tankgelegenheit vor dem Pass gibt es in Bormio oder in Prad.

Mit dem Motorrad: Kurvenparadies mit Suchtpotenzial

Für Motorradfahrer ist das Stilfser Joch schlichtweg heiliger Boden. Die 48 Kehren der Südrampe bieten eine der dichtesten Kurvenfolgen der Alpen und einen Fahrspaß, der seinesgleichen sucht. Nicht ohne Grund pilgern jedes Jahr zehntausende Biker hierher, um sich diesem ultimativen Test zu stellen.

Der besondere Reiz: Jede Kehre hat ihren eigenen Charakter. Mal eng und steil, mal etwas weiter und flacher – die Straße fordert permanent Anpassungsfähigkeit und Konzentration. Dazu kommt der ständige Wechsel von Licht und Schatten, wenn die Straße durch bewaldete Abschnitte führt oder plötzlich der prallen Sonne ausgesetzt ist.

Doch Vorsicht ist geboten. Die Kombination aus engem Kurvenverlauf, teils rutschigem Untergrund und häufig wechselnden Wetterbedingungen macht die Strecke tückisch. Nicht wenige Biker haben die Herausforderung unterschätzt. Angemessenes Tempo und vorausschauendes Fahren sind hier keine lästigen Einschränkungen, sondern überlebenswichtig. Die Unfallzahlen sprechen eine deutliche Sprache – besonders an Wochenenden mit Hochbetrieb.

Ein Tipp für Motorradfahrer: Die frühen Morgenstunden bieten die besten Bedingungen. Nicht nur ist die Straße dann noch vergleichsweise leer, auch ist die Konzentrationsfähigkeit nach einer Nachtruhe am höchsten. Und der morgendliche Sonnenaufgang, der die Berggipfel in goldenes Licht taucht, ist ein zusätzlicher Bonus.

Mit dem Fahrrad: Der Gipfelsturm auf zwei Rädern

Was für Autorennfahrer die Nordschleife des Nürburgrings ist, das ist für ambitionierte Radsportler das Stilfser Joch: die ultimative Herausforderung. Die Besteigung des Passes mit Muskelkraft allein gehört zu den legendären Prüfungen im Radsport. Nicht umsonst war das Stilfser Joch schon mehrfach Etappenziel beim Giro d'Italia und hat sich als einer der härtesten Anstiege des Radsports etabliert.

Die Zahlen sprechen für sich: Von Bormio aus sind es 21,5 Kilometer mit durchschnittlich 7,1 Prozent Steigung. Von Prad auf der Nordseite sind es sogar 24,3 Kilometer mit durchschnittlich 7,4 Prozent. Am anspruchsvollsten gilt jedoch der Anstieg von Trafoi, der zwar kürzer ist (12,8 km), dafür aber mit durchschnittlich 8,1 Prozent Steigung aufwartet. In den steilsten Passagen geht es bis zu 14 Prozent hinauf – da brennen selbst trainierte Oberschenkel.

Der Radsport hat hier oben Tradition. Legenden wie Fausto Coppi und Eddy Merckx haben auf diesem Pass Radsportgeschichte geschrieben. In den Sommermonaten kannst du kaum fünf Minuten am Pass verbringen, ohne dass ein erschöpfter, aber glücklicher Radfahrer die Passhöhe erreicht. Besonders beliebt bei Radfahrern sind die "Stelvio Bike Days", an denen die Passstraße für motorisierten Verkehr gesperrt wird und ausschließlich Radfahrern vorbehalten ist – ein Paradies für alle, die den Pass in Ruhe erobern wollen.

Eine bemerkenswerte Veranstaltung ist auch der Stelvio Marathon, bei dem die Teilnehmer den Pass zu Fuß bezwingen. Fast noch verrückter: Im Winter findet gelegentlich ein Skilanglaufrennen auf der verschneiten Passstraße statt.

Praktische Tipps für den Besuch

Die Fahrt über das Stilfser Joch will gut geplant sein. Im Hochsommer kann die Straße stark frequentiert sein, vor allem an Wochenenden. Wer kann, sollte einen Wochentag wählen und früh am Morgen starten. Gegen Mittag füllt sich die Strecke merklich.

Das Wetter am Pass kann extrem wechselhaft sein. Selbst an sonnigen Sommertagen kann es in der Höhe empfindlich kühl werden, und Wetterumschwünge kündigen sich oft nur kurz an. Im Gepäck solltest du daher immer warme Kleidung haben – selbst wenn unten im Tal sommerliche Temperaturen herrschen. Eine Regenjacke gehört ebenfalls zur Standardausrüstung, denn Regenschauer können jederzeit aufziehen.

Auf der Passhöhe und an verschiedenen Punkten entlang der Strecke gibt es Einkehrmöglichkeiten. Das Angebot reicht von einfachen Imbissbuden bis hin zu gemütlichen Berggasthöfen. Die Preise sind allerdings – wie so oft in touristischen Hochburgen – recht gehoben. Auf der Passhöhe selbst finden sich mehrere Souvenirshops, die alles von der klassischen Postkarte bis hin zu speziellem Stilfser-Joch-Merchandise anbieten.

Unterkünfte direkt am Pass sind rar und meist lange im Voraus ausgebucht. Besser planst du deine Übernachtung in einem der umliegenden Orte wie Bormio, Trafoi oder Prad. In der Hochsaison empfiehlt sich eine frühzeitige Reservierung.

Ein besonderes Erlebnis bietet sich übrigens für alle, die sich für die Geschichte des Passes interessieren: In einem ehemaligen Militärgebäude nahe der Passhöhe ist ein kleines Museum eingerichtet, das die bewegte Vergangenheit des Stilfser Jochs dokumentiert – insbesondere seine Rolle während des Ersten Weltkriegs, als hier die Front zwischen italienischen und österreichischen Truppen verlief.

Jenseits der Straße: Die Umgebung erkunden

Das Stilfser Joch ist mehr als nur eine Passstraße – es ist das Tor zum Nationalpark Stilfserjoch, einem der größten Naturschutzgebiete Italiens. Der Park erstreckt sich über eine Fläche von mehr als 130.000 Hektar und beherbergt eine beeindruckende alpine Flora und Fauna. Murmeltiere sind fast garantiert zu sehen, mit etwas Glück auch Gämsen und Steinböcke. Adler kreisen über den Gipfeln, und in den Sommermonaten verwandeln alpine Blumen die Hänge in ein Farbenmeer.

Für Wanderer bietet die Region ein gut ausgebautes Wegenetz. Von der Passhöhe aus führen mehrere markierte Wege zu umliegenden Gipfeln. Besonders lohnend ist der Aufstieg zur Dreisprachenspitze, der in etwa einer Stunde zu bewältigen ist und mit einem grandiosen Panorama belohnt. Anspruchsvoller ist die Besteigung der Geisterspitze (3.475 m), für die alpine Erfahrung und entsprechende Ausrüstung nötig sind.

Im Winter verwandelt sich das Gebiet in ein Skiparadies. Das Skigebiet Stilfser Joch ist eines der wenigen Gebiete in den Alpen, das auch im Sommer Skibetrieb ermöglicht – dank des Gletschers am Fuße des Ortlers. Für Langläufer gibt es im Winter eine präparierte Loipe auf der verschneiten Passstraße.

Kulturell Interessierte finden in den umliegenden Tälern zahlreiche Zeugnisse der bewegten Geschichte dieser Grenzregion. In Bormio locken historische Thermen, deren Heilquellen schon die Römer nutzten. Die mittelalterliche Altstadt ist ebenfalls einen Besuch wert. Auf Südtiroler Seite bietet Glurns, die kleinste Stadt Südtirols mit vollständig erhaltener Stadtmauer, einen charmanten Einblick in vergangene Zeiten.

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